Rätselraten um Jelzins Position

■ Kinkel in Moskau / Wie weiter nach der Wahl? / Kosyrew warnt vor Isolation

Moskau (taz) – Rußlands Außenminister Andrej Kosyrew gehört zu den entschiedensten Reformern im Kabinett von Premierminister Tschernomyrdin. Ginge es nach dem Willen des Vorsitzenden der faschistischen Liberademokratischen Partei, Schirinowski, der in den Parlamentswahlen fast ein Viertel der Stimmen sammeln konnte, müßte Außenminister Kosyrew sofort seinen Hut nehmen. Faschisten und Kommunisten war die klare Westorientierung des Außenministers schon immer ein Dorn im Auge. Bei dem inoffiziellen Treffen mit Klaus Kinkel forderte Kosyrew jetzt Deutschland auf, die Reformbemühungen weiterhin zu unterstützen.

Kosyrew gab sich zuversichtlich, daß Rußland nicht vom eingeschlagenen Weg abweiche. „Die Partnerschaftsachse Rußland– Deutschland ist die Lokomotive beim Aufbau eines neuen Europas“, resümierte der russische Außenminister ganz im Stil der alten Zeit die sieben Stunden dauernden Gespräche mit seinem Amtskollegen. An die vierzig Themen wollen sie behandelt haben. Kosyrew wurde – wie einigen seiner radikalen Mitstreiter – vielfach vorgehalten, die Verbindungen zu Westeuropa und Deutschland zugunsten der USA vernachlässigt zu haben.

In erster Linie werden die Gespräche einem Ziel gedient haben: Welche Reaktionen kann der Westen von Jelzin auf den Wahlsieg Schirinowskis erwarten? Am Freitag hatte sich schon US-Vizepräsident Al Gore in Moskau umgetan und deutlich zu verstehen gegeben, daß eine Annäherung an Schirinowskis Positionen für Washington nicht akzeptabel ist. Ansonsten dürfte wohl mit einer Absage der für Januar geplanten Moskau-Visite Bill Clintons zu rechnen sein.

Kosyrew warnte davor, Rußland nicht wieder in die Isolation zu treiben. Kurz nach den Wahlen kamen aus dem Regierungslager seltsame Töne, die eine Möglichkeit partieller Zusammenarbeit mit der Schirinowski-Partei nicht grundsätzlich ausschlossen. Der Außenminister zählt zu den kompromißlosen Gegnern jeglicher Kooperation. Er rief sogar die Kommunisten auf, eine breite „antifaschistische Front“ mit den Reformern zu bilden. Doch wo steht Jelzin derzeit? Es bleibt zu hoffen, daß Kosyrew nach dem Gespräch mit Kinkel dem Präsidenten ein eindeutiges Signal vermitteln kann. Vom Westen wird Härte und Fingerspitzengefühl gleichermaßen verlangt. Die geplante Nato- Erweiterung könnte den reaktionären Kräften in Moskau zusätzliches Gehör verschaffen. In diesem Sinne plädierte Kosyrew noch einmal für die Schaffung eines europäischen Sicherheitsverbunds, der Rußland nicht außen vor lasse.

Vizepremier Gaidar und Privatisierungsminister Tschubais riefen erneut zur Bildung eines „Antifa- Bündnisses“ auf. In St. Petersburg gründeten Mitglieder der Intelligenzija eine erste Aktionsgemeinschaft. Unterdessen weist Tschernomyrdin den radikalen Reformern, vornehmlich Gaidar und Tschubais, die Schuld an dem Wahldebakel zu: Ihre Wirtschaftspolitik sei der Hauptgrund. Tschernomyrdin kündigte an, daß die Akzente neu gesetzt werden: weg von der monetaristischen Stabilisierung des Rubels hin zu aktiver Investitionspolitik im Produktionssektor. Klaus-Helge Donath