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Karl-Marx-Allee im Winterschlußverkauf

■ 2.950 Wohnungen in Friedrichshain über Nacht an Immobilienfonds verdealt

Drei Tage vor Weihnachten lassen die Senatsverwaltungen für Finanzen und Bauen sowie die Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain (WBF) für rund 8.000 Berliner Mieter den Knüppel aus dem Sack. Quasi über Nacht veräußerte gestern die landeseigene WBF in einem Mega-Deal die denkmalgeschützten Bauten der Karl-Marx- Allee zwischen dem Strausberger Platz und dem Frankfurter Tor. 2.950 Wohnungen gehören ab heute der Wiesbadener Pfandbrief- und Hypothekenbank/Immobilien Marketing AG.

Die Mieter wurden über den Verkauf nicht informiert, die Wahrung ihrer Rechte ignoriert. Elisabeth Ziemer, baupolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/ Grüne im Abgeordnetenhaus, wertete den „klammheimlichen“ Verkauf als politischen Skandal „erster Güte“. Der Senat habe städtischen Wohnraum in einer hervorragenden Lage verschleudert.

Die Grundlage des Kaufvertrages bildet das vom Bund verabschiedete Altschuldenhilfegesetz (AHG), mit dem die östlichen Wohnungsbaugesellschaften verpflichtet werden, mindestens 15 Prozent ihres Wohnungsbestandes zu privatisieren. Bei Verkäufen bis zum 31. Dezember 1993 steht es den Gesellschaften bedingt frei, ob sie sogenannten Dritten (Banken oder Investoren) ein Vorkaufsrecht gegenüber kaufwilligen Mietern einräumen. Ab dem 1. Januar 1994 dagegen sollen die Wohnungen in erster Linie an die Bewohner selbst gehen. Damit die Wohnungen bis zum 31. Dezember '93 nicht als steuerbegünstigte Spekulationsobjekte privaten Immobilienhaien zum Fraß vorgeworfen werden können, muß bei der Veräußerung deutlich werden, daß den Mieterinteressen nicht zuwidergehandelt werde, so Bausenator Wolfgang Nagel (SPD). Nachgewiesen werden müsse etwa, ob die Mieter informiert wurden oder nicht selbst kaufen wollten.

Im Falle der Verscherbelung der „ersten sozialistischen Straße“ betätigt sich der Senat nun selbst als Absahner. Der Verkauf bedeute innerhalb weniger Tage nach dem „Schauspiel Leipziger Straße den zweiten Akt skandalöser Verschleuderung von städtischen Wohnungen“, wie Claudia Hertel (Fraktion Bündnis 90/ Grüne in der BVV-Friedrichshain) zur taz sagte. Bei der Karl-Marx- Allee „wurden weder die Mieter und die Mitglieder der BVV über die Verkaufsabsichten informiert noch diese nach den eigenen Kaufabsichten befragt“. Um die steuerlichen Vorteile zu nutzen, habe der Senat den Verkauf vor Jahresende durchgeboxt.

Zudem erweise sich die Behauptung von Helios Mendiburu, Bürgermeister in Friedrichshain, keine Wohnung 1993 zu veräußern, „als Lüge“. Unklar sei auch, betonte Hertel, ob Umwandlungen von Wohnungen in Mieteigentum nach 15 bis 18 Jahren stattfinden könnten. Klar sei nur, daß in den kommenden drei Jahren erhebliche Mietsteigerungen durch Modernisierungen auf die Bewohner zukämen. Positiv indessen sieht die Bauverwaltung den Verkauf. Mit der Entscheidung verliere die kommunale WBF zwar zwölf Prozent ihres Wohnungsbestandes, sagte Ralf Schlichting, Pressesprecher der Senatsbauverwaltung, auf Anfrage. Zugleich werde die Wohnungsbaugesellschaft einen erheblichen Teil ihrer Schulden los. Bei einem derart „seriösen Käufer und den guten Konditionen beim Kündigungsschutz“, so Schlichting, stehe die Nichtbefragung in keinem Verhältnis zum Ergebnis. Doch sei „klar“, daß die Karl-Marx-Allee nicht im Einzelverkauf über den Tisch gehen könnte, sondern en bloc verkauft werden müsse. Rolf Lautenschläger

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