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„... und fanden in Barmbeck die brüderlichste Aufnahme“

■ Hamburger Flüchtlingselend vor 180 Jahren: Ein Schüler spürte der Geschichte eines vergessenen Denkmals nach   Von Claudia Hönck

Es war eines der schrecklichsten Weihnachten in der Geschichte Hamburgs. Heute vor 180 Jahren, am Heiligen Abend 1813, trieben französische Truppen rund 2000 Menschen in der Petrikirche zusammen und wiesen sie am bitterkalten Morgen des 25. Dezember aus der Stadt. Insgesamt hatten bis zu diesem Datum bereits über 20.000 HamburgerInnen auf Befehl der napoleonischen Besatzer die Stadt verlassen müssen – etwa ein Sechstel der damaligen EinwohnerInnen.

Ihr Vergehen: Sie hatten entgegen der strengen Anordnung des französischen Oberkommandierenden, Marschall Louis Nicolas Davout, keine Lebensmittelvorräte für die nächsten sechs Monate angelegt. Entweder waren sie zu arm, oder sie hatten die mehrfach veröffentlichten Verproviantierungsbefehle nicht ernst genug genommen.

In endlosen Reihen schleppten sich die Flüchtlinge, darunter viele Alte, Kranke und Kinder, zu Fuß durch die eisige Kälte zur Nachbarstadt Altona, wo sie zunächst Aufnahme fanden. Weit über 1000 Menschen starben in jenen Wintertagen an den Folgen der Austreibung, an Hunger und Kälte.

Diese traurigen Ereignisse um die Jahreswende 1813/14 sind bekannt und gut dokumentiert, ebenso wie die gesamte Hamburger „Franzosenzeit“ von 1806 bis 1814, in der die zuvor wohlhabende Hansestadt durch die Kontinentalsperre gegen England, durch Kontributionen, Zwangsdienste und Truppenunterbringungen in große wirtschaftliche Not stürzte. Und Marschall Davout ist in zahlreichen Büchern für seine „Unmenschlichkeit“ verurteilt worden, obwohl neuere Autoren dem Franzosen inzwischen zugestehen, nach damaligem Kriegsrecht durchaus korrekt gehandelt zu haben. Eine hungernde Bevölkerung ohne jegliche Lebensmittelvorräte wäre, so schreibt etwa Hamburg-Historiker Eckart Klessmann, im Verteidigungsfall eine ernste Bedrohung für das Durchhaltevermögen der Stadt gewesen.

„Wieder sind es

die Schwachen, die

am meisten leiden“

Dem weiteren Schicksal der Hamburg-Vertriebenen hingegen ist allgemein nicht sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet worden. Und daß es in Barmbek gar ein Denkmal gibt, das an einen Teil der Flüchtlinge und ihre Aufnahme in dem damaligem Dörfchen vor den Toren Hamburgs erinnert, dürfte kaum jemandem bekannt sein, steht es doch ein wenig abseits und vernachlässigt in der Nähe der Durchgangsstraße Dehnhaide. Der Geschichte des schlichten vierkantigen Granitsteins ist der Barmbeker Gymnasiast Attila Gümüs nachgegegangen. Seine Arbeit, verfaßt als Beitrag zum „Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte um den Preis des Bundespräsidenten“ 1992/93 unter dem Thema „Denkmal“, wurde jüngst mit dem fünften Preis ausgezeichnet.

„Es waren die Parallelen zum aktuellen Flüchtlingselend im ehemaligen Jugoslawien, die den 16jährigen Schüler des Gymnasiums Barmbek-Uhlenhorst reizten: „Wieder sind es die schwachen Menschen, vor allem Alte und kinderreiche Familien, die unter einer Belagerung am meisten zu leiden haben. Wieder leben Tausende Menschen an der Existenzgrenze. Entweder können sie durch Mangel an Nahrung sterben, oder sie erfrieren.“ Sein Fazit nach dreimonatigem Stöbern in Archiven und Bücherhallen, nach intensiver Beschäftigung mit den Geschehnissen vor 180 Jahren: „Und wie 1813 ist Menschlichkeit gefragt. Die Aufnahme und Opferbereitschaft der Barmbeker sollte uns als Vorbild dienen. Den Barmbekern ging es wirtschaftlich miserabel, denn sie hatten gerade genug, um die Versorgung der eigenen Familien sicherzustellen. Außerdem waren sie auch direkt vom Krieg betroffen. Normalerweise müßte unsere Aufnahme- und Opferbereitschaft wesentlich größer sein als die der Barmbeker, denn wir sind in keiner Weise in Mitleidenschaft gezogen.“

Die Bauern teilten

ihr knappes Essen

mit den Städtern

Die kleine Siedlung Barmbeck, sechs Kilometer von der Stadtmitte Hamburgs entfernt, zählte zu jener Zeit rund 750 Einwohner: Hufner, Kätner, Handwerker. Die Nähe zur Großstadt mit ihrem Bedarf an Lebensmitteln hatte den Bauern stets ein gutes Auskommen gesichert. Unter der Franzosenherrschaft litten jedoch auch sie: Tiere und Getreidevorräte wurden requiriert. Außerdem beherbergten sie bereits eine unbekannte Zahl russischer Soldaten, die als Teil der anti-napoleonischen Allianz Hamburg belagerten. Dennoch fanden 150 bis 200 der Flüchtlinge, die nach der Vertreibung von Altona aus weitergezogen waren, bei ihnen „die brüderlichste Aufnahme und alle mögliche Pflege“, wie ein zeitgenössischer Chronist vermeldet. Noch mehr Menschen galt es nun zu verpflegen, knappes Essen mußte geteilt, Heuböden und Ställe für die Städter zur Verfügung gestellt werden. Gümüs: „Eine riesige Anstrengung... Man kann die Großzügigkeit und Menschlichkeit der Barmbeker Bauern, ihrer Familien und ihres Gesindes nicht hoch genug loben.“

Trotz aller Bemühungen starben in Barmbek bis zum Ende des Krieges im Mai 1814 50 Menschen. Sie wurden in einem Massengrab auf der Dehnhaide beerdigt, da der Weg nach St. Georg, wo die Barmbeker üblicherweise ihre Toten bestatteten, durch den Krieg versperrt war. Nach der Besatzungszeit kehrten die überlebenden Flüchtlinge höchstwahrscheinlich wieder nach Hamburg zurück. Die Dorfbewohner waren wieder unter sich, die Zeit des Zusammenrückens und Teilens wollten sie aber nicht verdrängen. Gut drei Jahre nach dem Schreckenswinter, am 27. Juli 1817, errichteten sie über dem Grab auf der damaligen Gemeindeweide eben jenes Denkmal, das noch heute an der Ecke Pfenningsbusch und Kraepelinweg steht. Seine schlichte Inschrift: „Begräbnisplatz der Einwohner Barmbecks und der vertriebenen Hamburger während der Belagerung Hamburgs im Jahre 1814“, und auf der Rückseite: „Errichtet von Barmbecks Einwohnern im Jahre 1817. Die Zahl der hier Beerdigten ist 50.“

Die Einweihungsfeier wurde groß begangen. 40 weißgekleidete Mädchen mit Blumenkörben eröffneten den Zug, sechs Pferde zogen den Wagen, auf dem der bekränzte Stein lag, selbstverständlich waren sämtliche Honoratioren mit von der Partie, und, so überliefert es der „Beobachter an der Elbe“, „Chorschüler aus unseren Kirchenschulen sangen für diesen Zweck verfaßte erbauliche Lieder.“

Rund 10.000 Menschen wohnten der „feierlichen Handlung“ bei, eine gewaltige Menge, die zum größten Teil nur aus Hamburg kommen konnte, das damals etwa 120.000 Einwohner zählte. In der Tat scheinen die Städter den Dörflern, „einer Volksklasse, über die man gewöhnlich so ganz unachtend hinwegblickt“, wie der „Beobachter“ ehrlich zugibt, überaus dankbar gewesen zu sein. Mit dem ganzen Schwulst der Zeit berichtet die Monatszeitung: „Kein Auge blieb thränenleer, und alles flehte zum Allmächtigen, daß er nie die traurigen Tage wieder über uns herbeirufen möge, wovon dieses Denkmal eine ewige Erinnerung ist. Dank, tausend Dank sei euch, Ihr guten Barmbecker! für die Wohlthaten, die Ihr den Lebenden und den Todten erwiesen habt! Außer der Belohnung des allgütigen Himmels, außer dem süßen Bewußtsein Eurer so edlen Handlungen, werden Eure hamburger Brüder und Nachbarn gewiß nie ermangeln, das Gute mit Gutem zu vergelten.“

Doch wie das mit „ewiger Erinnerung“ oft so ist – auch das Denkmal der Menschlichkeit wurde in späterer Zeit für ganz andere Zwecke mißbraucht. Während 1863 noch ein Trauerzug von Hamburg nach Barmbek pilgerte, um an die harten Jahre zu erinnern, standen die Zeichen 1913 wieder auf Krieg. Die Feier, die 100 Jahre nach der Besatzung an dem Gedenkstein abgehalten wurde, hatte, so fand Attila Gümüs heraus, „einen sehr nationalistischen Charakter. Man schwor auf 'Treue für Kaiser und Reich' und sang 'Deutschland über alles'. Das Denkmal wurde benutzt, um die Feindschaft gegenüber den Franzosen zu stärken, und so steht es indirekt in Verbindung mit dem noch bevorstehenden Ersten Weltkrieg.“

Seitdem hat sich kaum jemand für das Denkmal interessiert. 1926 wurde eine Mauer um die kleine Anlage gezogen, im Juli 1943 zerstörten Bomben den Platz, nur der Stein blieb erhalten. Die alten Linden, die 1817 zur Einweihung gesetzt worden waren, dienten in den kalten Nachkriegswintern als Brennmaterial. Später wurde die Anlage wieder hergerichtet, Mitte der 50er Jahre sogar darüber nachgedacht, den Stein in die Denkmalliste des Denkmalschutzamtes aufzunehmen. Dies ist bis heute nicht geschehen – weil der Block, laut Auskunft aus dem Denkmalschutzamt, „nicht gefährdet ist“.

Das wird stimmen, kennt doch wohl kaum ein Barmbeker, geschweige denn ein sonstiger Hamburger, die Geschichte, die der Stein erzählt. Attila Gümüs befragte an Ort und Stelle 25 Passanten, keiner wußte Bescheid. Nachdem der Junge seine Gesprächspartner über den historischen Hintergrund aufgeklärt hatte, bohrte er nach: Ob die heutigen Barmbeker, ebenso wie die Dorfbewohner damals, auch Kriegsflüchtlinge bei sich beherbergen würden, aus dem ehemaligen Jugoslawien etwa?

Heute will niemand

Kriegsflüchtlinge

bei sich aufnehmen

Die Antworten überraschen nicht: „Ein einziger Mann war bereit, eine Frau mit Kind aufzunehmen, sollte der Krieg weiter gehen. Sechzehn gaben an, keinen Platz zu haben, drei sagten, sie könnten aus finanziellen Gründen keine Flüchtlinge aufnehmen. Vier ältere Menschen hatten Angst, Fremde in ihre Wohnung zu lassen, und eine Frau gab an, sie könnte keine Flüchtlinge aufnehmen, da ihre Mutter zu Besuch sei.“ „Beschämend“, findet der 16jährige und schließt das Kapitel ab: „Wir müßten wieder lernen zu teilen, auch mit Menschen, die nicht so aussehen wie wir und auch nicht unsere Sprache sprechen.“

Und wünscht sich am Ende seiner Arbeit, daß das Denkmal, das eine Restaurierung gut vertragen könnte, hergerichtet wird, und daß ein Hinweisschild mit Erläuterungen aufgestellt wird. Denn: „Wenn in Hamburg ein Kriegerdenkmal aus dem Ersten Weltkrieg, das am Dammtordamm liegt, gehegt und gepflegt wird, dann muß das auch für ein 'Denkmal der Menschlichkeit', wie es das Barmbeker zweifellos ist, gelten.“

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