: Aber wer glaubt denn schon den Pennern?
■ Leben auf der Straße macht wachsam: Ein „Karsten“ hatte sich zu den Obdachlosen an der Volksbühne gesellt und ist plötzlich verschwunden / War er ein Spitzel?
Vom Abzocken läßt sich's leben. Fast scheint es ein Gewohnheitsrecht. Unternehmen gesunden daran, Politiker sichern sich ab. Selbstbedienung an Steuergeldern. Den Phantasielosen bleiben die kleinen Beträge. Und die Grausamkeit.
Zu den Wehrlosen begebe man sich. Hier braucht man keine Formulare. Karsten jedenfalls tauchte eines Tages an der Mahnwache von Obdachlosen am Rosa-Luxemburg-Platz vor der Volksbühne auf und brachte ein Wohnmobil, vorläufig und kostenlos. Er würde es nicht brauchen, denn drei Monate Thailand waren geplant. Smart lächelt der Besitzer eines Freizeitzentrums in Mühlhausen, mobil ist er auch, redet ständig und schnell, schaut einem nicht in die Augen. Aber die Geste trifft Träume der Obdachlosen und verdrängt ihre Wachheit. Keine Geldspende, kein Futter, nein, ein Arbeitsmittel wird geboten. Hier könnte Lisa Rasch praktizieren, wer Nachtwache hatte, ausschlafen, fließendes Wasser zum Händewaschen, und fürs Duschen brauchte man nicht S-Bahn fahren. Die Aussicht auf einen geschützten Raum wiegt schwer. Außerdem weihnachtet es sehr...
Nur eine kleine Bitte äußert er: kein Name und keine Presse. Der Wagen gehöre seinen Eltern, und die wüßten nichts davon.
Auch die Mahnwachenden sichern sich gegenüber der Presse. Sie stellen das Ding auf den Parkplatz vor der Volksbühne, um dem Vorwurf zu entgehen, sie lebten wie die Made im Speck. Wer weiß, wie viele Zeitungen in S-Bahnen liegenbleiben, kann ruhig glauben, Obdachlose sind gut informiert.
Karsten nimmt alle, als würde er sie schon ewig kennen. Karsten ermuntert die jungen Männer: „Hier kannste mit deiner Freundin kneckern.“ Karsten brät Putenkeulen, sein Kühlschrank ist immer voll. Aber er bringt auch grammweise kriminelle Geschenke. Unbeachtet bleibt: das Wohnmobil verfügt über eine Standardausrüstung, ist ein Mietwagen. Karsten bittet auch darum, die Kennzeichen zu entfernen. Bald scheint er dazuzugehören. Warum will er ein Auto leihen?
Die Berber helfen und vermitteln einen Autokauf. Karsten zahlt an mit einem Scheck, der ihm nicht gehört, und bittet um eine Probefahrt. Zwei junge „Mahnwächter“ lädt er ein zu einer Tour nach Dresden. Eine junge Frau ist dabei. Schnell muß Karsten noch etwas abliefern und Geld abheben. Die junge Frau leiht ihre Geldkarte. Blitzschnell kennt er Kontonummer und Geheimzahl. Auf der Autobahn heißt Karsten plötzlich Christoph, vor Dresden kracht das Getriebe. Notlage, und plötzlich hat Karsten in Dresden ein Funktelefon. Der Opel muß repariert werden. Karsten ist plötzlich nicht mehr beweglich, will deshalb das Wohnmobil aus Berlin holen. Gemeinsam mit der jungen Frau fährt er per Eisenbahn nach Berlin zurück. Der dritte Beteiligte soll warten. Man würde ihn holen.
Dazu jedoch kam es nicht mehr. Die Leute an der Mahnwache sind mißtrauisch geworden. Karsten verkehrte schon in der Wagenburg, galt auch dort als netter Mensch. Den Leuten vom Luxemburg-Platz war er viel zu nett. Sie setzen ihn fest, sagen ihm seine Hochstapelei ins Gesicht. Rechnungen von mehreren tausend Mark werden gefunden. Der Typ prellt Frauen, die für ihn Rechnungen bezahlen. Das Geld sehen sie nie wieder. Sehnsucht nach Liebe und Wehrlosigkeit sind sein Spekulationsobjekt. Nur kennt er die Szene nicht. Hier lebt Sinn für Gerechtigkeit, Leben auf der Straße macht wachsam. Man verkehrt mit der Polizei, denn Leben auf der Straße ist eine ständige Gratwanderung zwischen Legalität und Kriminalität. Dies ist ein Zustand der Unsicherheit, die Bürger brauchen aber Sicherheit.
Die Polizei schützt den Bürger. Wie also beendet man unsichere Zustände auf polizeiliche Art? Beweise müssen her für die Kriminalität dieser Zustände. Und die Mahnwache ist manchem ein Dorn im Auge, bisher konnte sie nicht vertrieben werden, sie steht nicht auf öffentlichem Straßenland. Jedenfalls gibt es ein bürgerliches Interesse, sie zu vertreiben. Sie entspricht nicht dem ästhetischen Gemeinwohl, wie auch die Wagenburgen.
Aber Karsten ist entwischt. Es scheint wirklich besser für ihn, die Polizei findet ihn. Dazu jedoch müßte diese den Obdachlosen glauben, und die Obdachlosen müßten der Polizei glauben, daß sie ihnen glaubt. Alles andere wäre Selbstanzeige wegen Beihilfe, denn Karsten war nie allein. Wer aber glaubt Pennern und Gesetzlosen?
Die Anzeige der jungen Frau jedenfalls wird nach vier Stunden mit dem Satz quittiert, sie wäre selbst schuld, und nur als Vermerk entgegengenommen. Erst als der Opelbesitzer Anzeige erstattet, wird das Geschehen als krimineller Tatbestand akzeptiert. Einen Tag nach Karstens Verschwinden muß die junge Frau das Schloß ihrer Wohnungstür auswechseln, es ist beschädigt. Karsten war mehrfach dort gewesen, und er weiß, die jungen Leute haben alle seine Schlüssel. Man sah ihn auch nach seiner Flucht in Hausnähe.
Was Karsten nicht weiß: Auch ein Foto haben sie und nicht wenig Lust, einen Steckbrief zu entwerfen. Je länger die Polizei braucht, den Mann zu finden, um so mehr nistet unter den Berbern der schon hörbare Verdacht, dieser Typ ist ein Spitzel. Die Polizei könnte das Gegenteil beweisen.
Allerdings geht auch das Gerücht, alle Anzeigen gegen ihn wären nie aufgeklärt. Hochstapelei scheint wirklich ein nützliches Gewohnheitsrecht... Sophia Solemnis
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