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Aus der Entfernung nur bum bum

Doch noch erschienen: Theodor W. Adornos unvollendetes Beethoven-Buch  ■ Von Karl-Heinz Ott

Über Jahrzehnte hinweg hatte er ein Werk versprochen, das seine ästhetischen Konzepte anhand der Musik von Beethoven explizieren sollte. Sogar der Titel stand angeblich fest, allein das Opus erschien nie. Als dann nach Adornos Tod die ebenfalls fragmentarisch gebliebene, aber doch in weitesten Teilen ausgearbeitete „Ästhetische Theorie“ erschien, schien man die einstige Ankündigung des Projekts endgültig als Gerücht ad acta legen zu dürfen.

Unverhofft liegt die Arbeit jetzt doch vor – in Gestalt nachgelassener Notizen. Rolf Tiedemann, Herausgeber bereits der Gesammelten Schriften (sowie, zusammen mit Gretel Adorno, der „Ästhetischen Theorie“) hat die Fragmente geordnet und hervorragend kommentiert. Seine ausführlichen Anmerkungen und detaillierten Querverweise lesen sich bald ebenso anregend wie Adornos Paralipomena selbst.

Als Schüler Alban Bergs hat Adorno seine philosophischen und ästhetischen Kategorien stets anhand musikalischer Phänomene entwickelt und überprüft. Ob er gegen die Unterhaltungsindustrie polemisiert, über das dialektische Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem spekuliert oder das bürgerliche Bewußtsein diagnostiziert – Exkursionen in die Musik dienten ihm als verläßliches Anschauungsmaterial.

Gewöhnlich begegnen wir in Adornos Texten Sätzen, die nicht nur beeindrucken, sondern auch einschüchtern. Obwohl Adorno die gleitende Bewegung des Begriffs als einzig gangbares Erkenntnismittel propagierte, wirken seine schriftlichen Elaborate nicht selten monolithisch und endgültig.

Dagegen erweisen sich die Beethoven-Fragmente als Zwischenbericht, der die Entstehung des gefeilten Gedankens aus dem ungehobelten Einfall nachvollziehbar macht. Man darf das Konvolut nicht so bewerten, als wäre es in dieser Gestalt zur Veröffentlichung bestimmt gewesen. Aber man kann sehen, wie auch Adornos strenge Reflexion sich aus Kalauern, Plaudereien und kuriosen Aperçus speist.

Ein Kalauer: „Hitler und die IX. Symphonie: Seid umzingelt, Millionen.“ Eine Plauderei: „Auf Gretels Frage, was denn eigentlich an der ,Missa Solemnis‘ so unverständlich sei, antwortete ich zunächst mit dem ganz einfachen Hinweis: daß kaum einer, der es nicht wüßte, dem Werk überhaupt anhören könne, daß es von Beethoven ist.“ Ein Aperçu: „Man könnte sich ja immerhin vorstellen, daß Beethoven taub werden wollte – weil er schon an der sinnlichen Seite der Musik jene Erfahrungen machte, die heute aus den Lautsprechern quellen.“ Natürlich sind die Grenzen hier fließend.

Seiner geschichtsphilosophischen Konzeption verpflichtet, hat Adorno Beethovens Werk nicht episodisch behandelt, sondern systematisch gelesen – wobei der Begriff des Lesens wörtlich zu nehmen ist. Immer wieder, auch in diesen Notizen, klagt er die genaue Notenlektüre gegenüber dem flüchtigen Hörerlebnis ein. Musikalische Werke sind für ihn wie philosophische Traktate: subtil geknüpfte Netzwerke, die aus dem Arrangement ihrer Einzelteile und der Durchführung der angeschlagenen Themen ihre Überzeugung und Kraft gewinnen. Beethovens Wille zur Symphonie hat Adornos Reflexion daher naturgemäß stärker herausgefordert als etwa Haydns überschaubares Formen. Ausschließlich Ausnahmefiguren, die den Widersprüchen ihrer Zeit in bestimmten kritischen Situationen ihren eigenen Ausdruck abtrotzten, widmete er ebenso ausführliche wie empfindsame Würdigungen: Neben Beethoven nur Wagner, Mahler, Schönberg und Berg.

Wie immer redet Adorno, wenn er über Musik spricht, über gesellschaftliche Verhältnisse. Beethovens Werk begreift er als Ausdruck einer bürgerlichen Ambivalenz: Einerseits lebt es von einem auftrumpfenden Gefühl, das tradierte Formen sprengt und zerreißt; andererseits arbeitet es an einer Sprache, die auf die bilanzierende Buchhaltung verweist. Unter dem Eindruck dieses Widerspruchs rückt Adorno Beethovens Physiognomik in die Nähe der Sagengestalt Rübezahl: Sie versinnbildlicht das launische Kraftgenie, das sich einer hehren Gesinnung erfreut.

Entsprechend verschränkt seine Musik das Dämonische mit dem Idealischen, den unberechenbaren Ausbruch mit den Schwärmereien Schillerscher Brüderlichkeitsträume. In dieser schwankenden Konstellation offenbart sich das gigantische Streben, die monomane Willenskraft, die ökonomische Effizienz, aber auch die pathetische Hohlheit des bürgerlichen Bewußtseins.

Adorno wärmt seinen Intellekt an solch kühnen Analogien und verschränkt dabei kritische Intention mit kunstsinniger Analyse. Beethovens Kompositionstechnik identifiziert er mit der integrativen Kraft des Hegelschen Systems. Trotz der Freiheiten, die Beethoven in Auseinandersetzung mit der Wiener Klassik errungen habe, schaffe er es, die divergierenden Elemente seines musikalischen Materials in ein geschlossenes Ganzes zu überführen. Beethovens tönende Kraft dürfe also nicht nur als vage Entsprechung, sie müsse vielmehr als sinnliche Vergegenwärtigung der Hegelschen Synthesis gelten.

Adorno variiert diese These so inständig, daß man den Verdacht nicht los wird, er müsse deren Evidenz sich selbst gehörig einreden (gegen seine Idée fixe ließe sich mit gleichem Recht die Existenz von Brüchen, sonderbaren Übergängen und abrupten Wendungen bei Beethoven ins Feld führen). Auch soll der gelungene Vermittlungseffekt nicht für alle Werke gelten. Der „Coriolan“- und „Egmont“- Ouvertüre bescheinigt Adorno eine „reduktive Drastik“, eine „gewisse Grobheit“ und „etwas Leeres“. Der Aneinanderreihung von Beschwörungsformeln in der „Missa Solemnis“ kann er wenig abgewinnen. Generell wird konstatiert: „Manche sehr großartigen Stücke Beethovens klingen aus der Entfernung nur bum bum.“

Beeindruckend, wie Adorno unter diesem Aspekt die Differenz zu Schubert bestimmt. In Schuberts Schönheit, sinniert er, liege eine größere Trauer, weil die Melodien ohne ausgleichendes Gesamtgefüge auf sich selbst zurückgeworfen seien. Auch hier läßt Hegels Lehre von der versöhnten Totalität grüßen, allerdings nur noch in einer elegischen, weil zerbrochenen Gestalt. Schubert gehört für Adorno zu jenen Heimatlosen, die, wie Kierkegaard im Reich des Denkens, von der integrativen Kraft der bürgerlichen Gesellschaft und der idealistischen Philosophie keinen Zuspruch mehr erhoffen dürfen. Auf fragile Melodien und Gedankenfetzen zurückgeworfen, verweisen sie auf eine innere Not, die der revolutionären Aufbruchstimmung folgt. Es ist der Weg vom Hochgefühl der „Eroica“ zur Verwahrlosung des Leierkastenmanns in der „Winterreise“.

Wie stets erweist sich Adorno auch bei dieser Spurensuche als ebenso „getreuer Korrepetitor“ wie kühner Konstrukteur: Die analytische Feinarbeit und die grandiose Geste fallen in- und auseinander. Wie gewohnt auch zelebriert er in diesen Fragmenten dialektische Sinnsprüche, die in ihrer Mischung aus Trivialität und Geschraubtheit vielversprechend nebulös klingen: „Groß ist ein Kunstwerk, wenn sein Mißlingen objektive Antonomien ausprägt.“

Solche Sentenzen kann man getrost überlesen, schmücken sie doch bereits zu Dutzenden Adornos mittlerweile kanonische Werke. Wer allerdings die kunstphilosophischen Schriften (noch) nicht kennt, findet in diesen nachgelassenen Notizen eine erste Einführung in ein zuweilen detailversessenes, zuweilen üppig spekulierendes Denken.

Theodor W. Adorno: Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Suhrkamp, Frankfurt 1993, 392 Seiten, 78 DM

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