: „Krisenzeiten sind Zeiten großer Chancen“
■ André Gorz' zehn Jahre alte Vision von den „Wegen ins Paradies“ noch einmal gelesen
Im Mai 1990 prophezeite der DDR-Repräsentant des internationalen Consulting-Konzerns Price Waterhouse, Kilian Krieger, den weitgehenden Zusammenbruch der DDR-Ökonomie, weil die Produkte und Güter der Kombinate in Deutschland niemand mehr brauche. Die westdeutsche Industrie mit ihren Produktionskapazitäten bedient die 16 Millionen Ostdeutschen locker mit. Ein neuer Standort in der damaligen DDR rechne sich für westdeutsche Konzerne noch lange nicht, so Krieger.
Und weil trotzdem niemand Hunger leidet, wäre das Verschwinden der Betriebe eigentlich kein Problem. Allerdings gerät bei dieser Betrachtung aus dem Blick: Mit den Produkten der Kombinate zwischen Ostsee und Riesengebirge wurde auch die Arbeit von neun Millionen Ostdeutschen tendenziell überflüssig. Die Ossis brauchte als Produzenten niemand mehr, nicht einmal sie selbst.
Gebraucht wurden sie nur mehr als Konsumenten: Also wurden staatlicherseits viele Milliarden Mark nach Ostdeutschland herübergeschoben, was den unbestreitbaren Vorteil hat, daß den Betroffenen so zumindest Geld, das heißt die Berechtigung zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben im neuen Kapitalismus zugestanden wurde. Einer wird im stillen Kämmerlein in der Nähe von Paris diese ostdeutsche Entwicklung mit großem Interesse verfolgt haben. Der französische Philosoph André Gorz hatte schon zu Beginn der achtziger Jahre in seinem Buch „Wege ins Paradies“ die Abkoppelung von Einkommen und Erwerbsarbeit und eine Lebensarbeitszeit von 20.000 Stunden propagiert. 20.000 Stunden, das wären nur 12 bis 13 Jahre Fulltime-Job oder 25 Jahre Halbtagsarbeit oder 40 Jahre sporadische Arbeit. Gorz' Prämisse damals: In Zeiten der mikroelektronischen Revolution müsse eine Lösung für eine Gesellschaft gefunden werden, der die Lohnarbeit ausgeht. „In der vollautomatisierten Fabrik tendiert das Quantum lebendiger Arbeit gegen null, zu gleicher Zeit wie die ... in Form von Löhnen verteilte Kaufkraft. Anders gesagt, die Automatisierung beseitigt mit den Arbeitern auch die potentiellen Käufer“ (S.51).
Bliebe diese Herausforderung ohne Antwort, würde das die westlichen Volkswirtschaften in den Ruin stürzen, meinte Gorz. Die Kaufkraft müsse also anders als durch die Entlohnung für getane Arbeit verteilt werden. „Die Bevölkerung muß bezahlt werden, damit sie die angebotenen Produkte konsumieren kann“ (S.61). Siehe oben! Maschinen und Rohstoffverbrauch könnten dafür zum Beispiel besteuert werden.
Verblüffend die Ähnlichkeiten der Medizin des linken Philosophen mit der Politik der rechten Bundesregierung, nicht wahr? Die Kaufkraft der neuen Bundesdeutschen wurde von der Treuhand und Theo Waigel herbeigezaubert, obwohl es die Produktion, die eine solche Kaufkraft begründet hätte, natürlich nicht gab.
Gorz wird sich nicht gewundert haben. Vollbeschäftigung für alle werde es in den westlichen Industriestaaten nicht mehr geben, schrieb Gorz damals, das müsse ohnehin jede Politik anerkennen. Wichtiger als ein solches Eingeständnis der Politik waren Gorz die Autonomieräume, die die immer weitergehende Rationalisierung notwendiger Arbeit den Einzelnen einräumen könnte. Die wenige Arbeit könne auf zwei Arten verteilt werden. Entweder müßten wenige Arbeitnehmer im hochtechnologisierten Sektor sehr viel arbeiten, und viele blieben arbeitslos, oder die wenige notwendige Arbeit würde gleichmäßiger verteilt.
Eine unegalitäre Verteilung würde von Konservativen bevorzugt, so Gorz. Sie stigmatisiere die Arbeitslosen weiter, „um die auf Leistungsethik beruhende Herrschaftsbeziehung“ zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu bewahren. Den Menschen in Deutschlands Osten wird diese Herrschaftsbeziehung gerade eingebleut, deshalb wird mit subventionierter, aber häufig genug überflüssiger Arbeit dort trotz des Verlusts der materiellen Basis der Arbeitsgesellschaft der Vollbeschäftigungsmythos aufrechterhalten.
Almosen stabilisieren die Verhältnisse
Ob Arbeitslosenunterstützung oder Grundeinkommen, solange der Lebensunterhalt nicht recht gestaltet und dargestellt werde, stabilisiere das Almosen die herrschenden Verhältnisse. Ziel konservativer Grundeinkommens-Befürworter sei nämlich gar nicht, die Hilfsbedürftigkeit abzuschaffen und Autonomiespielräume für den Einzelnen zu schaffen, sondern nur, gesellschaftliche Not sozial erträglich abzufedern.
Gorz dagegen meint: Das Grundeinkommen müsse zum Grundrecht werden, für das ein/e jede/r nur noch ein geringes Quantum an gesellschaftlich notwendiger Arbeit zu leisten brauche: 20.000 Stunden im Leben. Wenn die gesellschaftlich notwendige Produktion, also die Befriedigung der Grundbedürfnisse mit so wenig Arbeit geleistet werden könne, müsse niemand mehr an einem tumben Arbeitsplatz verdummen. Andererseits sollte sich auch niemand mehr völlig vor dieser Art entfremdeter Arbeit drücken können. Möglichst viel von dieser gesellschaftlich notwendigen Arbeit (Müllabfuhr/öffentlicher Verkehr/ Lebensmittelproduktion) soll banalisiert werden, so daß jeder Mensch mit einer vernünftigen Basisausbildung sie leisten könne. Daß diese Arbeit wenig mit Selbstverwirklichung zu tun habe, müsse akzeptiert werden. Journalisten ans Fließband: Die notwendige Arbeit sei ja schon rein zeitlich nicht mehr der Hauptpol im Leben.
Gorz beruhigt die solcherart aufgeschreckten Selbstverwirklichungs-Eliten. Für ihre Selbstverwirklichung bliebe wegen der wenigen notwendigen Arbeit genug Zeit übrig. Auf lokaler Ebene müßten vollausgestattete Werkstätten und Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung eingerichtet werden. Größere Teile des Lebens würden für alle von lähmenden Warenbeziehungen völlig frei. Niemand müsse schließlich mehr etwas gesellschaftlich so Unsinniges wie Splitterbomben produzieren, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die viele freie Zeit erlaubt in der Gorzschen Vorstellung, gleichzeitig überflüssigem Luxus zu frönen und Uneigennütziges zu tun. Die reduzierte Lebensarbeitszeit lasse genug Zeit, sich einen extraschönen Lampenschirm in einer der Werkstätten selber zu basteln oder bei einem andern Bastler zu bestellen – ein von der Gesellschaft zu befriedigendes Grundbedürfnis ist ein solch verzierter Lampenschirm im Gorzschen Denken nicht.
Die provokanten 25 Thesen des Buches entstanden vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise der frühen achtziger Jahre und der damaligen Prognosen über die Auswirkung der mikroelektronischen Revolution.
Heute, nach zehn Jahren Wachstum ohne Vollbeschäftigung, kämpft Europas Wirtschaft wieder mit der Krise, steigt die Zahl der Arbeitslosen wieder rapide. Die Grundversorgung der Bevölkerung kann offensichtlich mit noch weniger gesellschaftlich notwendiger Arbeit gesichert werden. Bei VW handeln Gewerkschaften und Unternehmen in der Praxis eine 28,8-Stunden-Woche aus, und in Frankreich und Deutschland wird über neue Arbeitszeitmodelle und ein garantiertes Grundeinkommen gestritten. Grund genug, die „Wege ins Paradies“ noch einmal abzuschreiten. Wie lautete noch der erste Satz des Buches: „Krisenzeiten sind Zeiten großer Freiheit.“ Hermann-Josef Tenhagen
André Gorz: „Wege ins Paradies“, Rotbuch 1983, vergriffen. In guten Bibliotheken, gutsortierten Antiquariaten und auf dem eigenen Bücherregeal, hinten.
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