: Acht Punkte gegen den Parteischematismus
Wenn das Volk seine Führer nicht richtig versteht, liegt es nicht am Volk. Sondern an den Führern ■ Von Mao Zedong
Der erste Punkt der Anklage gegen den Parteischematismus lautet: Endlose Phrasendrescherei und gegenstandsloses Geschwätz. Einige unserer Genossen schreiben gern lange Artikel, die aber keinerlei Inhalt haben, wie „die Fußbinden einer Schlampe lang und übelriechend“ sind. Warum muß man so langatmig und inhaltslos schreiben? Hier kann es nur eine Erklärung geben: Die Verfasser sind entschieden dagegen, daß die Massen sie lesen. Langatmig und dazu noch inhaltslos – wenn die Massen so etwas sehen, schütteln sie nur den Kopf; wer möchte das schon lesen? So etwas ist nur dazu gut, naive Menschen einzuschüchtern, einen schlechten Einfluß auf sie auszuüben und ihnen schlechte Gewohnheiten beizubringen. Am 22. Juni des vorigen Jahres ist die Sowjetunion in einen großen Krieg gegen die Aggression eingetreten, doch Stalins Rede vom 3. Juli war nicht länger als ein Leitartikel unserer Zeitung Djiäfang Jibao. Wenn aber unsere verehrten Herrschaften das verfaßt hätten, stellt euch das mal vor! Sie wären bestimmt nicht mit weniger als einigen zehntausend Wörtern ausgekommen. (...) Man könnte einwenden: Ist denn „Das Kapital“ nicht sehr lang? Was soll man nun damit anfangen? Sehr einfach: es weiterlesen. Ein Sprichwort sagt: „Je nach dem Berg, den du bestiegen hast, singe dein Lied“; ein anderes: „Iß so viel Reis wie die Zukost verlangt, nähe den Anzug nach deiner Figur.“ Was wir auch tun mögen, wir müssen immer die Umstände berücksichtigen, und das gilt auch für Artikel und Reden. (...)
Der zweite Punkt der Anklage gegen den Parteischematismus lautet: Wichtigtuerei zum Zwecke der Einschüchterung anderer. Manche dieser Schreibereien sind nicht nur voll endloser Phrasendrescherei, sondern auch bewußt wichtigtuerisch, um andere einzuschüchtern, und darin verbirgt sich ein sehr gefährliches Gift. Kann man endlose Phrasendrescherei und gegenstandsloses Geschwätz noch für Zeichen der Unreife halten, so ist Wichtigtuerei zum Zweck der Einschüchterung schon nicht mehr bloße Unreife, sondern einfach Niedertracht. Lu Hsün kritisierte solche Menschen mit den Worten: „Beschimpfen und bedrohen heißt keineswegs kämpfen.“ Wissenschaftliche Werke fürchten niemals Kritik, denn Wissenschaft ist Wahrheit und fürchtet keine Widerlegung. Subjektivistisches und sektiererisches Zeug hingegen, das in schematisch aufgebauten Artikeln und Reden zum Ausdruck kommt, fürchtet die Widerlegung; seine Verfasser sind außerordentlich feige und greifen deshalb zur Wichtigtuerei, um andere einzuschüchtern; sie glauben, so den Menschen den Mund stopfen und selbst „im Triumphzug in den Palast zurückkehren“ zu können. Derartige Wichtigtuereien können nicht die Wahrheit widerspiegeln, sondern sie nur beeinträchtigen. Die Wahrheit macht sich nicht wichtig und schüchtert andere nicht ein, sie spricht und handelt in größter Aufrichtigkeit.
Früher waren in den Schriften und Reden vieler Genossen häufig zwei Ausdrücke anzutreffen: „erbitterter Kampf“ und „schonungslose Schläge“. Solche Mittel sind im Kampf gegen die Feinde oder die feindliche Ideologie durchaus notwendig; es ist jedoch falsch, sie den eigenen Genossen gegenüber anzuwenden. Es kommt häufig vor, daß Feinde und feindliche Ansichten in die Partei eindringen (...). Es unterliegt keinem Zweifel, daß gegen solche Leute ein erbitterter Kampf geführt oder ihnen schonungslose Schläge versetzt werden müssen, weil jene Schufte gerade mit solchen Mitteln gegen die Partei kämpfen. (...) Man darf jedoch nicht die gleichen Mittel gegen Genossen anwenden, die zufällig Fehler gemacht haben. (...)
Der dritte Punkt der Anklage gegen den Parteischematismus lautet: Die Pfeile ziellos verschießen und nicht in Betracht ziehen, an wen man sich wendet. Vor einigen Jahren sah ich an der Stadtmauer von Yenan eine Losung: „Arbeiter und Bauern, vereinigt euch für den Sieg im Widerstandskrieg gegen die japanische Aggression!“ Der Inhalt dieser Losung war gar nicht schlecht, aber in dem Wort [„Gungjen“ Arbeiter] war der vertikale Strich des Schriftzeichens [„Gung“] zickzackförmig geknickt ( ). Und das Schriftzeichen [„Jen“]? Ihm waren auf dem rechten Schenkel drei Striche beigefügt ( ). Zweifellos war der Genosse, der das geschrieben hatte, ein Jünger der Literaten alter Schule; warum er aber diese Schnörkel gerade auf der Stadtmauer von Yenan und noch dazu während des Widerstandskriegs gegen die japanische Aggression anbringen mußte, das ist ein Rätsel. Wahrscheinlich hatte er sich geschworen, daß das einfache Volk die Losung nicht lesen sollte; eine andere Erklärung ist kaum möglich. Ein Kommunist, der wirklich Propagandaarbeit leisten will, muß berücksichtigen, an wen er sich wendet; er muß sich überlegen, wer seine Artikel und Reden, seine Äußerungen und die von ihm geschriebenen Schriftzeichen lesen beziehungsweise hören soll; tut er das nicht, so kann das nur heißen, er ist entschlossen, daß es die Leute nicht lesen und nicht hören sollen. Viele glauben oft, das, was sie schreiben und reden, werde von jedermann leicht verstanden, wiewohl das in Wahrheit ganz und gar nicht der Fall ist, denn wer versteht schon, wenn einer nach Parteischemata schreibt oder spricht? Die Redensart „Einer Kuh auf der Laute vorspielen“ enthält eine Verhöhnung des Zuhörers. Wenn wir sie jedoch umdeuten und ihr einen Sinn unterlegen, der Achtung für den Zuhörer bedeutet, dann kehrt sich der Spott gegen den Musikanten: Weshalb klimpert er, ohne zu beachten, wer ihm zuhört? Was noch schlimmer ist, wenn es sich gar um den Parteischematismus handelt; es ist einfach ein Rabengekrächze, das dennoch den Volksmassen immer wieder vorgeplärrt wird. Wenn man einen Pfeil abschießt, muß man auf die Zielscheibe visieren, wenn man Laute spielt, muß man an die Zuhörer denken; wie kann man denn das Publikum übersehen, wenn man einen Artikel schreibt oder eine Rede hält? Mit wem wir uns auch immer anfreunden mögen, können wir gute Freunde werden, wenn wir unsere Herzen nicht kennen, wenn wir nicht wissen, was der andere im innersten Herzen denkt? Es geht auf keinen Fall an, daß ein Propagandist, ohne sein Publikum zu erforschen, zu studieren und zu analysieren, einfach drauflos schwätzt.
Der vierte Punkt der Anklage gegen den Parteischematismus lautet: Die trockene und farblose Sprache, die an einen „Biäsan“ erinnert [städtische vagierende Elemente, die keine nutzbringende Arbeit leisteten, sondern von Bettelei und Diebstahl lebten, wurden in Schanghai „Biäsan“ genannt; im allgemeinen waren das auffallend dürre Gestalten]. Jene Geschöpfe, die von den Schanghaiern „kleine Biäsan“ genannt werden, sind genauso verhutzelt und garstig wie unser Parteischematismus. Wenn in einem Artikel oder einer Rede einige wenige Ausdrücke nach allen Richtungen hin schülerhaft abgewandelt werden und auch nicht ein einziges lebendiges Wort enthalten ist, gleicht das denn nicht mit seiner dürren Sprache und seinem abstoßenden Aussehen einem „Biäsan“? (...) Wir aber sind eine revolutionäre Partei und arbeiten für die Volksmassen; wir werden keine gute Arbeit leisten, wenn wir nicht die Sprache des Volkes lernen. (...) Warum muß man die Sprache studieren, und zwar mit größter Energie? Weil die Sprache nicht ohne weiteres zu meistern ist, weil das ohne emsiges Bemühen nicht geht. Erstens muß man die Sprache der Volksmassen lernen. Der Wortschatz des Volkes ist sehr reich und lebendig, er bringt das reale Leben zum Ausdruck. Sehr viele unter uns beherrschen die Sprache nicht gut; deshalb findet man in unseren Artikeln und Reden kaum lebendige, treffende, kraftvolle Sätze, sie sind ohne Fleisch und Blut, erinnern an einen verhutzelten und häßlichen „Biäsan“, nicht aber an einen gesunden Menschen. Zweitens müssen wir das aus fremden Sprachen absorbieren, was wir gebrauchen können. Wir übernehmen nicht mechanisch fremdes Sprachgut oder mißbrauchen es, sondern wollen nur das davon aufnehmen, was gut ist und uns nützt. Da der ursprüngliche chinesische Wortschatz nicht ausreichte, enthält unser Vokabular jetzt bereits vieles, was aus fremden Sprachen geschöpft wurde. So halten wir beispielsweise heute eine Funktionärskonferenz ab, und unseren Ausdruck „Ganbu“ [Funktionär] selbst haben wir vom Ausland gelernt. Wir müssen uns noch viel Neues aneignen, das aus dem Ausland kommt, und zwar nicht nur fortschrittliche Ideen, sondern auch neue Ausdrücke. Drittens müssen wir noch das Lebendige der klassischen Literatursprache studieren. Da wir die Sprache nicht eifrig genug studiert haben, können wir vieles, was aus der klassischen Literatursprache noch lebendig ist, nicht vollständig und rationell ausnutzen. Natürlich widersetzen wir uns entschieden dem Gebrauch ausgestorbener Ausdrücke und Redensarten – das steht fest –, doch sollen wir alles Gute und Verwertbare übernehmen. (...) Wer sind unsere Propagandisten? Nicht nur Lehrer, Journalisten, Schriftsteller, Künstler – unsere Kader auf allen Arbeitsgebieten sind Propagandisten. Nehmen wir die Befehlshaber der Armee als Beispiel: Sie geben zwar keine öffentlichen Erklärungen ab, reden jedoch mit den Soldaten und pflegen Kontakt zur Bevölkerung, ist das etwa keine Propaganda? Sobald ein Mensch mit einem anderen spricht, treibt er auch schon Propaganda. Falls er nicht stumm ist, hat er stets einiges zu sagen. Somit ist es unumgänglich, daß alle unsere Genossen die Sprache studieren.
Der fünfte Punkt der Anklage gegen den Parteischematismus lautet: das schematische Anordnen des Materials wie in einer chinesischen Apotheke. Man sehe sich eine chinesische Apotheke an: Die Regale der Apotheke enthalten eine Vielzahl von kleinen Schubladen, und auf jeder Schublade steht die Bezeichnung einer Arznei – Liebstöckel, Fingerhut, Rhabarber, Glaubersalz, kurz, alles was hierher gehört. Auch diese Methode haben unsere Genossen aufgegriffen. In ihren Artikeln, Reden, Büchern und Berichten verwenden sie erstens die großen chinesischen Ziffern, zweitens die kleinen chinesischen Ziffern, drittens die Zeichen der zehn Himmelsstämme, viertens die Zeichen der zwölf Erdstämme, ferner lateinische Großbuchstaben, kleine lateinische Buchstaben, dann arabische Ziffern und noch vieles andere mehr! Zum Glück haben unsere Vorfahren und die Ausländer für uns diese vielen Zeichen geschaffen, so daß wir ohne die geringste Mühe eine chinesische Apotheke eröffnen können. Und nun wimmelt ein Artikel von diesen Zeichen, er wirft keine Fragen auf, gibt keine Analyse, löst keine Probleme, nimmt weder für noch gegen etwas Stellung, entbehrt – was immer und wieviel auch darin stehen mag – jedes echten Gehalts, ist eben nichts als eine chinesische Apotheke. Ich will damit nicht sagen, daß zyklische und andere Zeichen nicht verwendet werden dürfen, sondern nur, daß dieses Herangehen an die Probleme falsch ist. Diese Methode der chinesischen Apotheke, für die jetzt viele Genossen schwärmen, ist in Wirklichkeit die primitivste, naivste, vulgärste. Es ist eine formalistische Methode, die die Dinge nach ihren äußeren Merkmalen klassifiziert und nicht nach ihren inneren Zusammenhängen. Wer nur anhand der äußeren Kennzeichen der Dinge einen Haufen innerlich miteinander nicht verbundener Begriffe zu einem Artikel, einer Rede oder einem Bericht arrangiert, treibt nicht nur selbst ein Spiel mit Begriffen, sondern kann auch andere zu derlei Spielereien verleiten, so daß diese Menschen dann nicht mehr ihr Gehirn gebrauchen, um über die Probleme nachzudenken, sich keine Gedanken über das Wesen der Dinge machen, sondern sich damit begnügen werden, die Phänomene hübsch nach Punkten anzuordnen. (...) Wenn ein Artikel oder eine Rede bedeutungsvoll und richtungweisend sein soll, muß darin immer ein bestimmtes Problem aufgeworfen, dann analysiert und hierauf synthetisch zusammengefaßt werden, muß das Wesen des Problems aufgezeigt und die Methode für seine Lösung angegeben werden; formalistische Verfahren sind dabei untauglich. Da aber solche naiven, primitiven, vulgären formalistischen Methoden, bei denen man das Gehirn nicht anzustrengen braucht, in unserer Partei sehr verbreitet sind, müssen wir sie entlarven; erst dann werden wir erreichen, daß alle es lernen, mit Hilfe der marxistischen Methode die Probleme zu betrachten, sie aufzuwerfen, zu analysieren und zu lösen; erst dann können wir erfolgreiche Arbeit leisten, kann die Sache unserer Revolution siegen.
Der sechste Punkt der Anklage gegen den Parteischematismus lautet: Verantwortungslos sein und überall Schaden anrichten. Alles, was vorher erwähnt wurde, hat einerseits Unreife, andererseits ungenügendes Verantwortungsbewußtsein zur Ursache. Nehmen wir das Gesichtwaschen als Beispiel. Wir alle waschen uns täglich, viele sogar mehrere Male am Tag, und nachdem wir uns gewaschen haben, werfen wir noch einen Blick in den Spiegel, nehmen sozusagen Untersuchungen und Forschungen vor (allgemeine Heiterkeit), weil wir befürchten, es könnte etwas noch nicht ganz in Ordnung sein. Seht nur, was für ein großes Verantwortungsgefühl! Hätten wir nur beim Artikelschreiben oder Redenhalten das gleiche Verantwortungsgefühl wie beim Waschen, dann würden wir nicht schlecht dabei fahren. (...) Viele Leute schreiben ihre Artikel oder halten ihre Reden ohne vorheriges Studium und ohne Vorbereitung, und nachdem sie einen Artikel geschrieben haben, lesen sie ihn nicht mehrmals durch, so wie man nach dem Waschen noch einen Blick in den Spiegel wirft, sondern übergeben ihn unbekümmert gleich der Öffentlichkeit. Das Ergebnis ist meistens so: „Eintausend Worte mit ein paar Federstrichen, zehntausend Li vom Thema abgewichen.“ Mögen sie noch so talentiert scheinen, in Wirklichkeit richten sie überall nur Schaden an. Dieser Unsitte eines geringen Verantwortungsgefühls muß abgeholfen werden.
Der siebente Punkt der Anklage gegen den Parteischematismus lautet: Das Gift breitet sich in der ganzen Partei aus und gefährdet die Revolution.
Der achte Anklagepunkt besagt: Die Verbreitung des Giftes kann katastrophale Folgen für das Land und das Volk haben. Die Bedeutung dieser beiden Punkte versteht sich von selbst und man braucht nicht näher darauf einzugehen. Mit anderen Worten: Wenn man den Parteischematismus nicht ausrottet, wenn man ihm gestattet, sich frei zu entfalten, können seine Folgen sehr ernst sein. In dem Parteischematismus ist das Gift des Subjektivismus und des Sektierertums verborgen, seine Ausbreitung würde der Partei und dem Land schweren Schaden zufügen.
Auszüge aus der Rede, die Mao am 8. Februar 1942 auf einer Funktionärskonferenz in Yenan hielt. Mao Tse-tung, Ausgewählte Werke Band III, Peking 1969
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen