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Wertfreie Stillosigkeit

■ Ist Realismus im Prinzip eher Pop- als Concept-art? Die Kunst- und Ausstellungshalle in Bonn zeigt Gerhard Richter retrospektiv von beiden Seiten

Längst hat Gerhard Richter die Thronfolge in der deutschen Gegenwartskunst nach dem Ableben von Joseph Beuys angetreten. Mit der Ausstellung von 125 Arbeiten aus seinem ×uvre wird nun in Bonn der kunsthistorische Beleg nachgereicht. Doch was vor 1962 gewesen ist, soll niemanden etwas angehen. Viele Bilder jener Zeit hat ihr Maler selbst zerstört, im gerade veröffentlichten Werkeverzeichnis sind sie nicht abgebildet. Wo und vor allem wann seine Kunst beginnt, hat Gerhard Richter selbst entschieden: Im Katalog seiner Gemälde fehlt die Zeit bis 1961, jenem Jahr, in dem Richter die DDR verließ, um an der Düsseldorfer Kunstakademie zu studieren.

Seine Loslösung vom staatlich verordneten Realismus der ängstlich anti-abstrakten DDR-Kunstwelt mit Hilfe der in Richters „Atlas“ dokumentierten Fotografie mochte der Wahl-Kölner auch diesmal nicht zeigen. Schon deshalb kann von einer Retrospektive im Grunde nicht die Rede sein. In Deutschland konzipiert, war die Ausstellung zwar zuvor bereits mit großem Erfolg in Paris zu sehen gewesen: Aber anders als viele deutsche Künstler ist Richter dort kein Unbekannter, seit Pontus Hultén – heute Intendant am Rhein, damals Gründungsdirektor an der Seine – 1976 sein Centre Pompidou unter anderem mit einer Richter-Schau eröffnete.

In seinem Heimatland dagegen ist Richter lange Zeit vor allem als Deutschlands Antwort auf die Bewegungen der internationalen Szene wahrgenommen worden. Außer acht gelassen wurde dabei allerdings, daß auch Pop-art und Minimalismus, die Nouveaux Realistes und die Neuen Wilden nur kurzfristig für Antworten auf die Fragen ihrer Zeit zu Rate gezogen worden waren. So stellte sich der gebürtige Dresdner 1962 in der legendären Galerie von Ileana Sonnabend in Paris mit seiner Mappe als „German Pop Artist“ vor. Aus der erhofften ersten Einzelausstellung wurde trotzdem nichts – sie fand erst zwei Jahre später in München und Düsseldorf statt.

Seither hat Richter die Kunstwelt mit seinem permanenten Paradigmenwechsel zwischen gegenständlicher und abstrakter Kunst irritiert – nicht provoziert. Auf beinahe monochrom graue Leinwänder folgten die knallbunten „256 Farbtafeln“, die dem Musterbuch eines Handelsvertreters entstammen könnten. Sphärische Wolkenbilder wechselten mit Farbexplosionen, idyllische Landschaften mit der wunderbar zart empfundenen Paraphrasierung der „Verkündigung“ Tizians ab. Daß dabei, wie das Werkeverzeichnis belegt, aus solitären Bildern doch immer wieder Zyklen entstanden, muß jedoch als logische Folge dieses lebenslangen Bündnisses mit der stillosen Freiheit verstanden werden: Ideologie in seiner Kunst zu transportieren liegt dem heute 61jährigen so fern wie das bewußt getriebene Spiel mit Ismen und Stilen. Sein Thema ist auch keine angestrebte Gleichberechtigung der abstrakten gegenüber naturalistischen Kunst, wie die letzte große deutsche Übersichtsschau 1986 in Düsseldorf suggerieren konnte – trotz der Bewunderung für Pollock und Fontana. Richter kämpft, das macht die Bonner Ausstellung verblüffend deutlich, als ewiger konstruktiver Skeptiker mit jeder Leinwand um die Autonomie der Kunst jenseits aller ästhetischen und wirtschaftlichen Sachzwänge. „Er ist ein Konzeptkünstler“, hatte Pontus Hultén bei der Auseinandersetzung mit Gerhard Richter festgestellt, „der die Malerei benutzt, um Fragen der Kunst wie Fragen der Zeit zu erörtern“.

Folgerichtig präsentieren die Bonner Gastkuratoren Kasper König und Benjamin D.H. Buchloh Richter in der pompösen Bundeskunsthalle nüchtern, beinahe spröde. Seine kaum sichtbar gerahmten Werke hängen, von Richter selbst ausgewählt, in zwei Etagen um einen begrünten Atriumhof herum. Allein die beiden Portraitbüsten, die Richter von sich selbst und Blinky Palermo schuf, stehen als ironisches Zitat und einziges ausgestelltes Selbstbildnis Richters vor einer klassizistisch ockerfarbenen Rotunde, an deren grau gestrichener Innenwand die 48 Portraits jüdischer Intellektueller aus dem Kölner Museum Ludwig hängen. Auf weitere Inszenierung haben König und Buchloh Richter in Bonn ebenso verzichtet wie auf die in Paris weitestgehend durchgehaltene chronologische Hängung. Ähnlich dem Schaffen Richters wechseln die meist großformatigen Farbwelten mit den gegenständlichen Landschaftsbildern, wenigen Portraits und Stilleben ab. Einzig der erst in letzter Sekunde noch aus der Düsseldorfer Kunsthalle hinzugeholte große Spiegel bricht die analytisch angelegte Ausstellungsarchitektur auf. Ein dezent abgetrenntes Seitenkabinett zeigt jenen „18. Oktober 1977“ betitelten Zyklus, in dem Richter sich 1988 nicht, wie oft fehlinterpretiert, mit dem Mythos RAF, sondern mit der Intensität einer Ideologie auseinandersetzte, die in ihrer alogischen Konsequenz schließlich in den Tod führen mußte.

Dem eigentlichen Ausstellungskatalog sind in einer Kassette auch ein Band mit sorgfältig ausgewählten Texten von und über Gerhard Richter und das schon erwähnte Werkeverzeichnis beigegeben. Dieser dritte Band enthält sämtliche zwischen dem in Bonn ausgestellten „Tisch“ von 1962 und dem ebenfalls gezeigten Zyklus „Bach“ von 1992 entstandenen Gemälde Richters. Der dafür gewählte und strikt durchgehaltene Abbildungsmaßstab von 1:50 hat jedoch den gewaltigen Nachteil, daß diverse seiner Werke auf einer Fläche von nur wenigen Quadratmillimetern kaum zu ahnen sind. Zudem fehlen alle Hinweise auf Bildmaterial und Provenienz. Hätte man statt dieser editorisch eitlen, kunsthistorisch aber reichlich sinnlosen Spielerei den gerade im Insel-Verlag erschienenen Textband Richters hinzugefügt, wäre das ohnehin schon großartige Ausstellungserlebnis zu einem noch bleibenderen geworden. Stefan Koldehoff

„Gerhard Richter“, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn; noch bis zum 13. Februar 1994. Katalog: 3 Paperback-Bände im Schuber, zusammen 544 Seiten, mit unzähligen Farb- und Schwarzweiß-Abbildungen, Edition Cantz, Stuttgart; in der Ausstellung 95, im Buchhandel gebunden 178 DM. – Gerhard Richter: „Text“, 280 Seiten mit zahlreichen Schwarzweiß- Abbildungen, Insel-Verlag, Frankfurt/M., Paperback, 48 DM

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