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Zehn Freunde sollt ihr sein

Die 15. Fußball-Weltmeisterschaft steht vor der Tür, doch schon die letzte hat sogar beim Weltverband FIFA die Alarmglocken schrillen lassen: Der Fußball ist auf den Hund gekommen und ohne chirurgische Eingriffe nicht zu retten  ■ Von Matti Lieske

Die 14. aller Fußball-Weltmeisterschaften, die 1990 in Italien stattfand, war ein solcher Ausbund an unschönem Fußball, daß selbst konservativste Fußballfunktionäre des Weltverbandes FIFA, die sonst immer am liebsten alles beim alten lassen, der Schrecken packte. Schlechte Weltmeisterschaften hatte es schon immer gegeben, 1962 in Chile etwa, als nur der krummbeinige Fußball-Cangaceiro Garrincha Freude versprühte, oder 1982 in Spanien, wo Zynismus (BRD) und rohe Gewalt (Italien) das Finale unter sich ausmachten. 1990 aber, das war deutlich zu erkennen, war kein Ausrutscher, sondern das sichtbare Zeichen einer tiefen Strukturkrise. Der Fußball droht an sich selbst zu ersticken.

Übervölkerte Mittelfelder verhindern jegliches flüssige Spiel, strenge Defensive bringt eine Inflation von Elfmeter-Entscheidungen, symptomatisch, daß der Weltmeister Deutschland 1990 seine letzten drei Spiele sämtlich durch Strafstöße gewann. Der einzige fußballerische Lichtblick war Kamerun, doch die Hoffnung auf eine Renaissance des schönen Kickens mit afrikanischen Mitteln erlitt schon beim Afrika-Cup 1992 in Senegal einen schweren Dämpfer, als auch dort Mauerfußball und Elfmeterschießen die Regel waren.

Seit seiner Geburt gerät der moderne Fußball immer mehr in die Defensive. Ende des letzten Jahrhunderts waren alle Spieler noch Stürmer. Sie rannten dahin, wo der Ball war, droschen ihn so schnell wie möglich nach vorn und hetzten allesamt hinterher, in der Überzeugung, daß bei so vielen Füßen doch wenigstens einer in der Lage sein müßte, das Tor zu treffen. Später erfand der englische Coach Herbert Chapman das WM-System, das immer noch fünf Stürmer auf den Platz stellte, dann kam Brasiliens 4-2-4, welches die vorsichtigen Europäer flugs in ein 4-3-3 umwandelten. Immerhin noch drei Angreifer, dabei zwei echte Flügelstürmer.

Doch der Niedergang setzte sich unaufhaltsam fort und personifizierte sich in einem Mann, der eigentlich dazu geschaffen schien, dem dahinsiechenden Fußball neues Leben einzuhauchen: Franz Beckenbauer. Seine Erfindung des Liberos bedeutete den endgültigen Sieg des Prinzips Destruktion. Bis dahin hatten zumeist technisch wenig beschlagene Klopper wie etwa Willi Schulz einen reinen Ausputzer hinter der Abwehr gespielt, während die Künstler im Mittelfeld ihre Kreativität erstrahlen ließen. Der phantasievolle Wirbel, den das deutsche Mittelfeld mit dem wunderfüßigen Beckenbauer als zentraler Figur bei den Weltmeisterschaften 1966 und 1970 aufführte, gehört immer noch zu den Leckerbissen der Fußballgeschichte. Zum letzten Mal wirkte der Zauber 1970 beim Jahrhundertspiel von Mexiko, der 3:4-Halbfinalniederlage gegen Italien, das allerdings mehr von der Dramatik als von fußballerischer Klasse lebte. Beckenbauer selbst behauptet heute kategorisch, bei der Betrachtung einer Videoaufzeichnung dieses denkwürdigen Matches würden einem glatt die Füße einschlafen.

Mythen zehren eben von der Verklärung, genauso wie jener vom angeblich so ehrlichen und großartigen Fußball der ersten Bundesligajahre. In Wahrheit gab es trotz Netzer, Overath und Beckenbauer genauso viele miserable Spiele wie heute, und die vielgerühmten Charaktere unter den Kickern mußte man auch in jenen Tagen mit der Lupe suchen. Die meisten Bundesligaspieler waren bereits damals brave Angestellte, die vor allem der Inhalt ihrer Lohntüte am Monatsende interessierte. Zwar hat die Bedeutung von Kraft und Athletik gegenüber der Technik inzwischen enorm zugenommen, spielen Geld und Medien eine größere Rolle, und die jungen Spieler sind als Kinder ihrer Zeit braver als manche Generation vor ihnen. Aber auch früher waren Fußballprofis schon immer erheblich braver als ihre Altersgenossen. Bei der Lösung der Probleme des modernen Fußballs hilft der getrübte Blick zurück wenig, jene verzweifelte Beschwörung einer goldenen Ära des Nonkonformismus, des bodenständigen, unverdorbenen und doch kunstfertigen Fußballs, „l'art pour l'art“ des grünen Rasens sozusagen, wie sie vor allem in linksintellektuellen Kreisen Hochkonjunktur hat. Dort mag man partout nicht zugeben, daß der Fußball eine höchst primitive und profane Angelegenheit ist, die der tumbe rechtsradikale Haudrauf genauso verstehen kann wie der feinsinnige Ästhet und Literat. So wird laut „Heureka“ geschrien, wenn bei Mannschaften wie dem FC St. Pauli oder SC Freiburg ein paar kluge Köpfe und schräge Fans auftauchen, und fieberhaft in der Historie gekramt, auf der Suche nach geeigneten Subjekten, die es erlauben, den Fußball doch noch in höhere geistige Gefilde zu entführen. Die Namen sind immer die gleichen: Günter Netzer, Willi Lippens, George Best. Doch auch die vollführten ihre Kunststücke so gut wie nie zum Selbstzweck, höchstens wenn das Spiel bereits entschieden war. Auch sie wollten möglichst schnell ein Tor schießen, nur wußten sie, daß der direkte Weg nicht immer der beste ist. Halten wir es also lieber mit Bert Brecht, der ein Boxfan war, aber nie zu begründen suchte, daß es dabei um etwas anderes gehe, als dem Gegner möglichst oft aufs Maul zu hauen. Genau das gefiel ihm halt.

Die glorreichen Zeiten mit dem kurzen Höhenflug bei der Europameisterschaft 1972 waren mitnichten ein Fanal des Aufbruchs im Lande, sondern korrespondierten mit der moralisch schwärzesten Phase des deutschen Fußballs, dem Bundesliga-Skandal, und bildeten den trügerischen Auftakt zu einer langen Durststrecke, die bis heute anhält und eng mit dem Namen Beckenbauer verknüpft ist.

Bis zur Ära Beckenbauer waren die großen Fußballer immer im Angriff zu finden, Beckenbauer machte den Künstler zum Abwehrstrategen, zum Hohenpriester des „safety first“. Damit bildete er das genaue Gegenstück zu seinem visionären Zeitgenossen Johan Cruyff, der als Spieler wie als Trainer exakt den entgegengesetzten Weg ging. Beckenbauer, obschon stets ein glühender Bewunderer des Offensivfußballs, konnte gemäß der Lebensphilosophie des Giesinger Kleinbürgermilieus, dem er entstammte, nie der Versuchung widerstehen, wenn es darauf ankam, größtmöglicher Vorsicht den Vorrang zu geben. Der Architekt der größten Ära des deutschen Fußballs, von 1966 bis 1972, als zwei Weltmeisterschaften nicht gewonnen wurden, mutierte zum Mephistopheles des Strafraums, zum leibhaftigen Geist, der stets verneint. Bei der WM 1986 in Mexiko, als der Bock zum Leithammel gemacht worden war, ließ er lauter Vorstopper auflaufen und hätte sich nach eigenem Eingeständnis sogar geschämt, wenn die Deutschen durch irgendeinen dummen Zufall das Finale gegen Argentinien gewonnen hätten. Vier Jahre später brauchte er sich nicht zu schämen. Hatte er seine Leute in Mexiko, weil er wußte, daß sie eh nicht spielen könnten, wie er gern wollte, so spielen lassen, wie sie konnten, schaffte er es 1990, daß alle besser spielten, als sie konnten. Mit Glück und Geschick reichte das mangels ernsthafter Konkurrenz zum Titel.

Beckenbauer rollte das Spiel von hinten auf, Cruyff nahm es von vorn in die Hand. Der Niederländer war Stürmer mit Leib und Seele, auch wenn er sich auf dem ganzen Feld herumtrieb. Der totale Fußball, den Cruyffs Mannschaften praktizierten, bedeutet totale Offensive, sobald das eigene Team in Ballbesitz ist, und das Bestreben, möglichst schon in des Gegners Hälfte in Ballbesitz zu kommen. An guten Tagen sind Cruyffs Teams in der Lage, jedes Publikum in Begeisterung zu versetzen. Mit Beckenbauer dagegen nahm erst das Bayern-Spiel, dann das der Nationalmannschaft jenen streng kalkulierten Kosten-Nutzen-Charakter an, der mit geringem Risiko und minimalem Aufwand zwar Erfolge brachte, aber die Zuschauer zu Tode langweilte. So wurde Beckenbauer, der den Libero immerhin als einziger vernünftig spielen konnte, als Spieler und Trainer Weltmeister, doch von Cruyff, der das nie schaffte, aber dafür seinen FC Barcelona gelegentlich nur mit zwei Abwehrspielern agieren ließ, ging immer die größere Faszination aus.

Der hagere Holländer, dem gelegentlich nur seine Liebe zum Mammon etwas in die Quere kommt, ist wie Arrigo Sacchi und Cesar Luis Menotti einer der wenigen Trainer, die Angriff für die beste Verteidigung halten und daran glauben, daß offensives Spiel den größten Erfolg bringt. Attraktiver Kombinationsfußball hat auch bei den Zuschauern auf Dauer nur eine Chance, wenn er erfolgreich ist. Ginge es beim Fußball nur um das Schöne und Gute, bräuchte man keine Tore. Die Essenz jedes Leistungssports ist das Gewinnen, und auch Menottis These vom linken und rechten Fußball meint selbstverständlich: siegreichen linken Fußball. „Die Solidarität und die gemeinsamen Träume“ sind für den Argentinier die wesentlichen Elemente dessen, was er als links versteht, Träume, die weiterleben und sich von Generation zu Generation fortsetzen. „Wozu dient es, Weltmeister zu werden, wenn nichts bleibt? Das Wichtige ist, zu sehen, wie die Titel errungen werden, und das ist das, was bleibt. Das Projekt ist wichtig, der Stil, eine Art, die Dinge zu tun, die nicht von sofortigen Resultaten abhängt.“

Menottis Horrorvision vom rechten Fußball verkörpert sich in Carlos Bilardo, einem der vielen knochenbrechenden Verteidiger, die sich zum Traineramt berufen fühlten, und der es dank eines überwältigenden Maradona 1986 mit Argentinien zum WM-Titel brachte. „Der weiß immer noch nicht, warum er Weltmeister geworden ist“, höhnte Menotti, stattet dem Fußball aber immerhin seinen Dank dafür ab, daß der Arzt Bilardo durch ihn „wenigstens von der Medizin ferngehalten wurde“. 1990 bestätigte Bilardo alle Vorurteile seines kettenrauchenden Landsmannes, als sein argentinisches Team mit Destruktion, extensiver Mauertaktik, Glück und einem invaliden Maradona zum Schandfleck der WM avancierte.

Einen Fußball, „der den Leuten gefällt“, wünscht sich dagegen Menotti, der einst beim FC Santos an der Seite von Pelé spielte, schön und erfolgreich. Sacchis AC Mailand und Cruyffs FC Barcelona beweisen, daß der Traum vom linken Fußball auch in den Zeiten der totalen Kapitalabhängigkeit realisierbar ist. Perfekte Technik und schnelles Direktspiel sind für Johan Cruyff – neben dem Brasilianer Mario Zagalo der einzige große Stürmer, der ein großer Trainer wurde – die Grundpfeiler des Spiels. Der Ball soll laufen, nicht die Spieler, eine Maxime, die er nach eigenem Bekunden von Hennes Weisweiler gelernt hat, mit dem er als Spieler beim FC Barcelona ansonsten nicht sonderlich gut klarkam.

Hier liegt auch die Crux der Sache. Nicht ohne Grund bekommt der FC Barcelona häufig Probleme gegen schwächere Teams, die sich in der eigenen Hälfte versammeln und ein solch engmaschiges Abwehrnetz aufspannen, daß sich selbst Cruyffs Kohorte von Supertechnikern darin verfängt. Zudem haben nur wenige Trainer wie Cruyff oder Sacchi die Möglichkeit, sich die geeigneten Spieler für ihr System auf der ganzen Welt zusammenzusuchen, geschweige denn die Unerschütterlichkeit, die bei solch hohem Risiko unausbleiblichen Rückschläge und die dann über sie hereinbrechenden Stürme der Kritik unbeschadet wegzustecken. Auch Johan Cruyff mußte, bevor er Barcelona zum Meister machte, zwei entbehrungsreiche Jahre durchmachen, in denen er ob seiner Zweierkette mit dem lahmen Ronald Koeman heftigst verlacht und verspottet wurde, am lautesten von Spaniens jetzigem Nationaltrainer Javier Clemente. Die meisten Trainerkollegen flüchten unter solchen Umständen dann doch lieber in den sicheren Hafen der Beckenbauerschen Versicherungsideologie.

Eine Genesung des Fußballs kann jedoch nicht durch rückwärtsgewandte Sehnsüchte erreicht werden. Den Fußball von früher würde heute niemand mehr sehen wollen, auch wenn noch so viele Netzers aufliefen. Vielmehr gilt es, Bedingungen zu schaffen, die der heutigen Dynamik und Schnelligkeit des Spiels Rechnung tragen und es dennoch ermöglichen, spektakulären, offensiven Fußball zu spielen und damit Matchs zu gewinnen, wie es die im Geiste Cruyffs aufgewachsenen Niederländer zuletzt 1988 bei der Europameisterschaft demonstrierten. – Dies wird kaum ohne gravierende Regeländerungen zu bewerkstelligen sein. Daß grundlegende Reformen angebracht sind, erkannte vor allem Joseph Blatter, der Generalsekretär der FIFA. Bereits im Dezember 1990, noch unter dem Schock von Italia 90, rief er die „Task Force 2000“ ins Leben, ein Gremium von Experten, dem Funktionäre, Schiedsrichter, Journalisten sowie aktive und ehemalige Spieler wie Jorginho und Michel Platini angehörten. Die Task Force sollte möglichst schnell Regeländerungen zur Steigerung der Attraktivität erarbeiten. Ihre einschneidenste Neuerung war das Verbot des Rückpasses zum Torwart, eine vernünftige Maßnahme, die auch die Zustimmung des Association Board fand, jener britisch dominierten Institution, die über die endgültige Einführung von Regeländerungen zu entscheiden hat. Andere überaus begrüßenswerte Vorschläge wie sudden death statt Elfmeterschießen, die Verhängung von Elfmetern auch bei groben Fouls außerhalb des Strafraums oder die Zeitstrafe wurden jedoch abgelehnt, die überfällige Einführung einer effektiven Spielzeit wurde gar nicht zur Diskussion gestellt.

Auch der revolutionärste aller Vorschläge, der vor allem von Franz Beckenbauer favorisiert wird, wurde dem Board nicht unterbreitet: die Reduzierung der Spielerzahl. Vor allem wenn Spitzenmannschaften aufeinandertreffen, wie etwa beim Europacupfinale zwischen AC Mailand und Olympique Marseille oder bei diversen WM-Spielen, wird deutlich: der Platz ist zu voll. Meistens werden diese Partien schlagartig besser, wenn Spieler beider Teams von Feldverweisen ereilt werden. Die Schnelligkeit, körperliche Fitneß und taktische Raffinesse sind bei den Topspielern so weit entwickelt, daß sie bei voller Motivation in der Lage sind, die Räume so zu verengen, daß jedes gegnerische Kombinationsspiel schon im Ansatz unterbunden wird. Spielen solche Mannschaften gegeneinander, ist das logische Resultat ein Nicht- Fußballspiel, das entweder durch ein Glückstor, meist nach Standardsituationen, oder durch Elfmeter entschieden wird. Talentierte Einzelspieler, ohnehin ständig mit Fouls malträtiert, bekommen kaum Gelegenheit, ins Geschehen einzugreifen. Die Folge ist ein unansehnliches Mittelfeldgestochere wie etwa beim Länderspiel Deutschland–Brasilien im November, das, so ist zu befürchten, auch 1994 in den USA die Regel sein dürfte, wo sich der verzweifelte Versuch, durch die Gewährung von drei Punkten für einen Sieg in der Vorrunde die Offensive zu fördern, als Tropfen auf den heißen Stein erweisen wird.

Spätestens danach wird es hohe Zeit für eine neue Task Force sein, die an der Reduzierung der Spielerzahl kaum noch vorbeikommen wird. Auf diese Weise könnte Franz Beckenbauer zu guter Letzt doch noch zum Retter des Fußballs avancieren, wenn schon nicht als Trainer von Bayern München, so wenigstens als Regel-Innovator.

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