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Talfahrt in der Berg- und Talstadt

Freiberg ist das Tor zum Erzgebirge, ein lebendiges Bilderbuch der Architektur / Von „deutscher Lebensart“, abgerissenen Schornsteinen und den guten Wünschen zum Wahljahr  ■ Aus Freiberg Detlef Krell

In Freiberg ist immer noch Weihnachten. Auf dem Obermarkt dreht sich eine haushohe Pyramide, uniformierte Bergleute geben auf drei Etagen ihre Festparade. In den Fensterläden der spätgotischen und barocken Bürgerhäuser schimmern Schwibbögen, Räuchermänner qualmen vor sich hin. Freiberg ist das Tor zum Erzgebirge. Das Erzgebirge ist, wie ein kunterbunter Prospekt im Fremdenverkehrsamt anpreist, „Weihnachtsland“.

Die kopfsteingepflasterten engen Gassen der Altstadt sind voll von Menschen. Erstaunlich viele Läden gibt es hier, Tür an Tür kleine Geschäfte, in denen erzgebirgische Mundart singt. Museale Drogerien und Kramläden sind zu entdecken, Werkstätten und Cafés. Nur die alten Bergmannskneipen haben sich meist zu Restaurants für Touristen herausgeputzt. „Es gibt ja auch keine Bergleute mehr“, sinniert die Männerrunde in der „Likörfabrik“ über ihren Gläsern.

Werner P. zeigt auf die Emaillewerbung an der tabakgelben Wand. „Wunderkräuterwald“ steht darauf. Der Wald sieht gesund und würzig aus. Vor Jahr und Tag wurde hier die reine Natur zu einem kräftigen Trunk gebrannt, für die Kumpel, die allabendlich in der Likörfabrik auf ihre Gesundheit einen heben gingen. Die Fabrik ist längst eingegangen, und im Wunderwald des Erzgebirges sind die Kräuter zuerst am sauren Rauch gestorben. Wer heute hier einkehrt, der trinkt in seinen Lebensabend. „In Freiberg fällt doch ein Schornstein nach dem anderen“, seufzt einer in der Runde, „gestern erst habense wieder einen gesprengt.“ Die anderen wissen bescheid: „Saxonia“, ein Traditionsbetrieb der Stadt. Werner erzählt, er habe Glück, denn er gehe „noch“ arbeiten. „Straßenbau“, da gebe es Aufträge satt. Sein Nachbar jobbt bei einem Maurer. Der hatte voll zu tun „bis einen Tag vor Weihnachten“, lobt der Mittvierziger die Auftragslage.

Eine Runde Schnaps erscheint, jemand hat Geburtstag. Gute Wünsche gibt es keine. Der Straßenbauer berichtet, daß er persönlich den Bürgermeister kenne, vom Kegeln. Deshalb würde er ihn nicht als „Bürgermeister“, sondern immer als „Sportsfreund“ ansprechen. Doch Sportsfreund Bürgermeister geht schon seit zwei Jahren nicht mehr zur Kegelbahn. Die Männer nicken anerkennend: Für Freiberg sei das eine gute Zeit gewesen. Häuser wurden saniert, Straßen in Ordnung gebracht, Geschäfte eröffnet. „Das ist doch immer eine Frage des Geldes“, nimmt der Maurer das Rathaus gegen alle unausgesprochenen Vorwürfe pauschal in Schutz. An dem abgegriffenen Kneipentisch der „Likörfabrik“ bekommen die in Sachsen regierenden Christdemokraten die absolute Mehrheit. Von der CDU spricht zwar keiner, aber vom Ministerpräsidenten. „Politiker sollten ehrlich sein“, meint der Straßenbauer, „so wie der Biedenkopf.“ Und die anderen alle, „die machen bloß Versprechungen, bis sie gewählt werden, und dann sind sie auch nicht besser“, lautet das Urteil über die Opposition. Da wählt man doch besser, was man kennt. „Der Biedenkopf“, orakelt die Runde, „wird's wohl wieder schaffen.“

Von der Stammkneipe sind es nur wenige Schritte bis zum Theater. Auf dem Giebel steht groß zu lesen: „Die Kunst gehört dem Volke“. Mittelalterliche Häuser mit steilen Dächern säumen die Gassen zum Untermarkt hin, wo eine „Goldene Pforte“ in den Dom führt. Kinder drängeln sich im Stadt- und Bergbaumuseum vor „Puppen aus mehreren Jahrzehnten“. Freiberg ist „Bergstadt“. Das meint Geschichte; vor mehr als 700 Jahren wurde im damaligen Christiansdorf erstmals ein Klumpen Silber gefunden. Freiberg ist auch Universitätsstadt. Die Bergakademie, älteste montanwissenschaftliche Hochschule der Welt, bekam in diesem Jahr den Status einer Technischen Universität zuerkannt. Sie wirbt als „kleine, aber feine“ Uni mit dem Slogan „Klasse statt Masse“ und will sich als „universitäres Zentrum für geschlossene Stoffkreislaufwirtschaft Deutschlands“ profilieren.

Nun haben die Freiberger Sozialdemokraten über Weihnachten eine besonders gute Idee für ihre geschichtsträchtige Stadt gehabt. Sie möchten die Ortseingangsschilder um das Attribut „Universitäts- und Bergstadt“ erweitern. Stadtverordnete griffen sich grübelnd an den Kopf und fragten, ob es für die Genossen denn gar keine anderen Probleme gebe. Die Freie Presse fragte in einer Lokalspitze an, wie man „reisenden Norddeutschen“ erklären wolle, was eine „Bergstadt“ sei, und sie zitierte Spötter, die der jüngeren Geschichte wegen Freiberg gern als „Berg- und Talstadt“ bezeichnen. Schließlich befürchtet der Kommentator, die SPD könne sich einer anderen Initiative erinnern und Freiberg als „Stadt der deutschen Lebensart“ ausweisen.

Es ist nämlich noch keine zwei Monate her, da wurde im Kreistag eine vom SPD-Kreisrat Holger Reuter verfaßte Erklärung vorgelesen. Unterschrieben hatten auch Kreisräte der CDU, der FDP, der ÖDP und der DSU. „Wir sind stolz, Freiberger zu sein“, hieß es darin. Man wolle „nicht mehr wortlos hinnehmen, daß Freiberg in einem Licht dargestellt wird, in dem es sich in der Wirklichkeit nicht darstellt“. Nein, in der Kreisstadt wurde nicht mit Brandflaschen auf Ausländer geworfen. Es war der alltägliche „kleine“ Rassismus, der durch Medien und politische Gruppen an die Öffentlichkeit gebracht wurde, das „ausländerfreie“ Diskocafé, die Abschiebung der kranken Kurdin Ebru Öztürk, ausländerfeindliche Schmierereien an Wänden... Die große Koalition der Beleidigten wollte nun „nicht mehr wortlos akzeptieren, daß unsere Art zu leben, daß unsere Mentalität nicht mehr offen vertreten werden darf, ohne Argwohn zu erzeugen“.

Das Pamphlet gipfelte in dem programmatischen Ruf: „Wir wollen unsere deutsche Lebensart in gleicher Weise erhalten wie jede andere Nation in der Welt und deswegen nicht in irgendeine Ecke gestellt werden.“

Ein Heitmann war damals noch, mit ähnlichen Sprüchen, auf dem Weg zum Präsidentenamt. Lokalreporter Uwe Kuhr spricht seitdem von einem „gewissen Rechtsruck“ im politischen Klima der Stadt. Jedoch gibt er auch zu bedenken, daß die scharfe Kritik seines Blattes an der „deutschen Lebensart“ bei den Freibergern sehr viel Zustimmung gefunden habe. Mehrheiten waren mit der deutschnationalen „Erklärung zur Ausländerproblematik“ weder im Kreistag noch in der Bevölkerung zu gewinnen. Als StudentInnen der Bergakademie oder als Händler und Gewerbetreibende, als Asylsuchende oder Touristen leben für eine ostdeutsche Kleinstadt relativ viele AusländerInnen in Freiberg.

Bürgermeister Konrad Heinze (CDU), der sich immerhin veranlaßt sah, sich von der „Erklärung“ zu distanzieren, meidet in den Neujahrsworten für die „Mitbürgerinnen“ und „Mitbürger“ jeden Kommentar zu diesem Thema. Statt dessen würdigt er die kommunalen Erfolge: die Eröffnung einer Schule für Lernbehinderte, die Rettung des Theaters, die Arbeit der Stadtwerke. „Opfer“ seien nötig, um die Stadt wieder aufzubauen.

In Bürgermeister Heinzes überladenem Bücherregal stehen Heinrich Lummers „Standpunkte eines Konservativen“ auf einem Ehrenplatz. Der CDU-Rechtsaußen aus Berlin war schon einmal in das sächsische Städtchen gekommen, um mit Gleichgesinnten das „Deutschland-Forum“ der Unionsparteien zu stricken. Konrad Heinze hatte den illustren Kreis im Saal des Ratskellers ordentlich begrüßt; dem Vernehmen nach, ohne beizutreten. Heute resümiert er die einjährige Arbeit des Deutschland-Forums als erfolgreich. Die Konservativen hätten sich „sehr stark eingebracht“, ohne sich „als Flügel bemerkbar zu machen“. Das sei das beste, was der „nach wie vor Volkspartei“ CDU passieren könne.

Der Alt-Freiberger möchte, wenn ihn die Partei nominiert, zu den Kommunalwahlen am 12. Juli gern wieder antreten. Die Wahlchancen für die sächsische CDU bewertet er für alle Ebenen als „nicht schlecht“. Querelen zwischen „Erneuerern“ und „Blockflöten“ seien ein „abgeschlossenes Kapitel“. Dagegen wird, nach seiner Meinung, die Ost-West-Auseinandersetzung in der Union an Schärfe zunehmen. Der Bürgermeister zitiert frei den Ministerpräsidenten: Im Westen müsse die deutsche Einheit wahrgenommen werden. Heitmanns Rücktritt von der Präsidentschaftskandidatur verbucht der Sachse als Niederlage in diesem Streit. Ein „kühner Vorstoß“ sei das gewesen, für den „die Deutschen noch nicht reif“ gewesen seien.

Unter den Fenstern des Bürgermeisters dreht sich unablässig die Pyramide. Eine Gruppe Jugendlicher zieht quer über den Platz, in Richtung Schloß. Das Schloß Freudenstein erinnert von außen eher an eine Kaserne. Napoleon hatte sich die Renaissance-Anlage zum Getreidespeicher umbauen lassen, und zwar so solid, daß er diesen Zweck bis 1979 erfüllte. Heute gibt ein Schild am Portal bekannt, daß das Schloß mit Bundesgeldern saniert wird. „Davon haben wir gerademal die Fenster zugemauert“, höhnt ein Bauarbeiter. In den Gewölben ist ein Jugendklub zu Hause. Gegründet als „Jugendklub X. Weltfestspiele“, ist er jetzt „Treff der Linken“. Die Schülerin Sylvia Rack und der Student Dirk Thiele wollen sich in „Rechts- Links-Schubladen“ jedoch nicht einordnen lassen. Die „Faschos“ hätten ihren Klub am Stadtrand, dann gebe es noch einige andere Klubs für „Normalos“. Das Schloß sei traditionell Punk-Hochburg. In Freiberg kommen 15 Punkbands auf 50.000 Einwohner, rechnet der Mathematikstudent vor. „Anfang des Jahres werden sie ein gemeinsames Konzert geben.“ Dirk stellt sich als Chefredakteur des ersten Freiberger Stadtmagazins vor. „Darin wollen wir auch über unsere Probleme diskutieren, ohne für irgendeine Seite politisch Partei zu ergreifen.“ Das Klima in der Stadt sei gespannt, „an fast jedem Wochenende gibt es irgendwo eine Schlägerei“.

Allmählich mischt sich Silvesterlaune in den Weihnachtsfrieden der beschaulichen Stadt. Im wienerischen „Café Hartmann“ zucken die Gäste zusammen, weil vor der Tür ein Knaller hochgeht. Die engen Straßen geben eine gute Akustik.

Zwei Freiberger Unternehmen sind besonders gut gelaunt, wenn sie an die bevorstehende Nacht denken. Wohl die komplette Jahresproduktion der einen Firma wird dann in die Luft fliegen. „Sachsen Pyrotechnik“ ist Alleinhersteller von Knallern im Freistaat und rührt schon seit 300 Jahren Schwarzpulver zusammen.

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