: "Ihr werdet euch noch wundern"
■ Gesichter der Großstadt: Der FU-Philosoph Wolfgang Fritz Haug ist Westberlins prominentester Karl-Marx-Experte / Haug über Marx: "Aktueller denn je"
Komisch ist das nur im Rückblick: Als „lupenreinen Moskau- Kommunisten“ verteufelte Springers Welt einstmals den FU-Professor Wolfgang Fritz Haug – 1978, als SPD-Wissenschaftssenator Peter Glotz den umstrittenen Marxisten nach heftigem Gerangel als schlechtbezahlten C2-Professor in die FU geschmuggelt hatte. Hysterisches Kaltes-Kriegs-Gezeter. Aber in Wirklichkeit war die heiße Marx-Welle schon lange am verdampfen.
Sechs Jahre vorher, 1972, war das anders: Da drängelten sich 500 hitzige Studenten beim Privatdozenten Haug, um leidenschaftlich Marxens „Kapital“ zu lesen. „Da bekriegten sich Trotzkisten, Spontanisten und all die anderen Fraktionen, und ich konnte kaum einen Satz zu Ende sprechen“, erinnert sich Westberlins bekanntester Marxismus-Experte mit einer Spur von Wehmut in der Stimme. Denn zwanzig Jahre später sitzen gerade mal fünfzig Teilnehmer in dem gleichen „Kapital“-Kurs, und es sind Phlegmatiker im Vergleich zu den alten Flügelkämpfern. Wintersemester 1993/94: Die Freie Universität ist längst marode, der Kapitalismus in einer schweren Krise, der Ostblock nicht mehr existent – und Wolfgang Haug inzwischen 57 Jahre alt.
„Bewundernswerte Ehrlichkeit“ angesichts des Scheiterns attestiert die Zeit diesem Philosophen, der seine Gedankengänge immer in ziselierter Perfektion ohne „ähs“ und „mmhs“ vorbringt. In seinem „Perestroika-Journal“ von 1990 führt Haug geradezu masochistisch Tagebuch über den Niedergang des Ostblocks, über das Versagen seines Hoffnungsträgers Michail Gorbatschow – und damit auch über sein eigenes Scheitern.
„Versuch, beim täglichen Verlieren des Bodens unter den Füßen neuen Grund zu gewinnen“, lautet der programmatische Untertitel; „Lernen tut weh“, ermahnt Haug folgerichtig die „Kapital“-Studenten des Jahrgangs 1993, und er verweist damit nicht nur auf Aristoteles, sondern auch auf selbst durchlittene Erfahrung.
Aber was hat er nun gelernt? Daß die Interpretation dort gefährlich wird, wo Marx andeutet, daß soziale Vermittlungsstrukturen, wie Parlament oder Verfassungsgericht, letztendlich überflüssig seien – utopisches Saatgut für „schreckliche Gewalt, wie beispielsweise beim Stalin-Regime“, sagt Haug, der bereits seit 1985 einen moderaten „pluralen Marxismus“ vertritt.
Allerdings: Als Analytiker der kapitalistischen Grundstrukturen sei Marx angesichts der Rezession „aktueller denn je“ und „höchst brauchbar“. Denn er zeige, wie das kapitalistische System unvermeidlich immer wieder in die Krise schliddert. „Die aktuelle Misere ist nicht irgendeine, sondern sie berührt die Grundfesten unseres Systems. Ihr werdet euch noch wundern“, prognostiziert Haug seinen fünfzig Zuhörern eines Montag abends mit sanfter, aber um so eindringlicher Stimme, daß manchem Wohlstandsstudenten unter den Anwesenden ganz anders wird, und er, schaurig erschreckt, die Kuschelfelle seiner bohemianten Existenz bereits davonschwimmen sieht.
Als habe dagegen unter ihm der Boden nie geschwankt, gestikuliert Haug mit Verve, doziert hochkonzentriert, doch dabei immer allgemeinverständlich,und läßt sich mit „Leiden-schaft“ auf die Schar der fünfzig ein. „Ich bin nicht verbittert“, kommt es über seine vollen Lippen, die verraten, daß hier ein gefühlvoller Mensch gerade sein Credo verkündet. Trotz der Entutopisierung von Marx fehlen dem Hobby-Klavierspieler mit dem schütteren, grauen Haarkranz und der klassisch hohen Denkerstirn die Visionen nicht, denn: „Jede Utopie schnurrt doch letztlich darauf zusammen, daran zu glauben, daß es ein lebenswertes Dasein geben kann.“ Darauf scheint Haug alles „zusammenzuschnurren“, trotz des augenscheinlichen Scheiterns weiterzumachen, trotz des schwankenden Bodens aufrecht Haltung zu bewahren und sich dem Zynismus zu verschließen. Obwohl so viel bereits verloren ist: die Visionen der Endsechziger („damals dachten wir, alles wäre möglich“); und die Verheißung der Wintermonate von 1989, als die DDR noch eine Chance zu haben schien, sich zu erneuern. „In einer reformierten DDR wäre mein Buch ,Der plurale Marxismus‘ heute ein bedeutendes Werk“, sagt Haug mit einem Hauch von Trotz.
Solch offensichtliche Enttäuschung blitzt bei ihm nur selten auf: dann beispielsweise, wenn er eine Spur zu prompt versichert, die niedrige C2-Einstufung seiner Professur sei ihm „sooo“ egal; oder dann, wenn er unerwartet bescheiden betont, es ja immerhin zu „Weltruhm“ gebracht zu haben – mit seinem in zehn Sprachen übersetzten Buch über die Warenästhetik. Dieses Buch jedoch – und das ist die subtile Ironie – handelt nicht von der besseren Gesellschaft, sondern von den Verpackungstricks der Industrie.
Und auch dann blitzt Haugs Enttäuschung auf, wenn ein Student Montag abends verspätet in den Marx-Kurs platzt und Haugs liebevoll entwickelte Gedankenkette sprengt, um die neuesten Streik-Beschlüsse aus der Vollversammlung zu verkünden. Da rutscht Haug dann der Vorwurf an seine Zuhörer heraus: von der „Verslumung“ der Uni im allgemeinen und von der „Verrostlaubung“ des Philosophischen Instituts im besonderen.
Denn Haug weiß wohl, daß er auch an diesen fünfzig Marx-Lesern zu 99 Prozent scheitern wird – oder besser: sie an ihm. Seine unermüdliche Ernsthaftigkeit wird dem Philosophen indes gedankt, auf sehr studentenuntypische Weise: Denn selbst wenn Haug seine dreistündige Abendvorlesung, wie oft, eine halbe Stunde überzieht, wagt kaum einer, vorzeitig zu gehen – ein solch schlechtes Gewissen will sich niemand aufbürden. Marc Fest
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