: Unterm Strich
Manche haben ja vom neuen Jahr rein gar nichts zu befürchten. Die heutige Kurzmelderin zum Beispiel. Die Tarot-Karten, von der Kollegin am letzten Dienst-Tag des alten Jahres zu Illustrationszwecken mitgebracht, auf Anfrage gelegt und freundlich gedeutet, hatten nur das Beste in Aussicht gestellt und alle, aber auch wirklich alle ihre Vorhaben aufs ermutigendste bestätigt. Und mit dem Ritter der Münzen, diesem kopfstehenden Faxenmacher rechts von der Mitte, der Gefühlsturbulenzen bringen soll, wird sie auch noch fertig. Das verheißt nämlich die an Silvester beherzt gegossene Bleigestalt. Eine Figur, schrecklich und schön zugleich, ein klein bißchen wie sie selbst: anmutig in der Rückansicht, gehüllt in ein Gewand mit fast madonnenhaftem Faltenwurf; vorn bewehrt mit zierlichen Zangen oder Abstandhaltern, je nachdem. Beruhigend und praktisch.
Die Orientierung nach vorn ist ohnehin überfällig. In den vergangenen Wochen hat es ja einen schweren Überhang an Rückblicken und bilanzierenden Betrachtungen gegeben. Wenden wir uns also dem Kommenden zu. Wenn Sie allerdings glauben sollten, daß Sie jetzt so einfach für und vor sich hin leben können, am Ende gar nach Ihrem eigenen Motto, haben Sie sich getäuscht. Daraus wird nichts, das ist nämlich immer vorgegeben. Erstens steht das Jahr 1994 im Zeichen des Weißstorchs, welchselbiger zum Vogel des Jahres gekürt wurde. Und zweitens haben die Vereinten Nationen das Internationale Jahr der Familie ausgerufen. Was Sie daraus für Konsequenzen ziehen, bleibt natürlich Ihnen überlassen. Wir hier ducken uns schon mal vorsorglich. Denn es wird fürchterlich: Rückblicke auf die Geschichte der Familie und des Vogelflugs von der Frühsteinzeit bis heute; bilanzierende Betrachtungen zur Gefährdung der Gattungen unter besonderer Berücksichtigung des allgemeinen Werteverfalls. Und so fort. Vielleicht wäre Identifikation mit dem Aggressor doch die bessere Strategie. Kann also gut sein, daß wir mitmischen. Richten Sie sich drauf ein. Und fangen Sie sicherheitshalber schon mal an zu stricken.
Während Sie und wir entweder gemütlich zu Hause rumsaßen oder in der Techno-Disco schwitzend ins neue Jahr hoppelten, ist die Hochkultur ihrem Kulturauftrag wieder voll gerecht geworden. Glaubt man dpa – und das tun wir immer, ist schließlich unser Lieblingsorakel –, gab es Donnerstag abend im Kleist- Theater in Frankfurt/Oder nach Armin Petras' Inszenierung von „Mörderkind“ Blumen und Applaus für Plenzdorf-Uraufführung. In der Sektion „Das gute Neujahrskonzert“ gab es Beifall für Beethovens Neunte an der Hamburger Staatsoper, und die Berliner und Wiener Philharmoniker begeisterten. Wien- Dirigent Lorin Maazel wünschte sich in seiner abschließenden Ansprache: „Möge uns dieses Jahr vor den Gefahren des Fanatismus bewahren.“
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