: Energie aus dem Turbo-Reaktor
Kernphysiker wollen Teilchenbeschleuniger für ein neues Reaktorkonzept einsetzen und damit die Risiken entschärfen / Doch das Problem mit dem Atommüll bleibt bestehen ■ Von Gerd Rosenkranz
Wenn die Vision aus Genf Realität wird, müssen Atomkraftgegner um ihre Argumente bangen. Im Kernkraftwerk der Zukunft, behauptet Carlo Rubbia, ist ein Super-GAU à la Tschernobyl oder Harrisburg ausgeschlossen, Plutonium und andere Strahlenstoffe mit Ewigkeitswirkung fallen nicht mehr an, das Dauerrisiko eines militärischen oder terroristischen Mißbrauchs der Nukleartechnologie löst sich in Wohlgefallen auf.
Der Teilchenphysiker Carlo Rubbia ist nicht irgendwer. 1984 erhielt der Italiener den Nobelpreis, seit fünf Jahren leitet er das Europäische Kernforschungszentrum Cern in Genf. Nun, kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag und dem Ende seiner Amtszeit an der Spitze des Europäischen Forschungszentrums, geht Rubbia fremd. Seine kürzlich demonstrativ veröffentlichte Idee: Bisher in der Materialforschung, der Chemie und Biologie eingesetzte Neutronenquellen können zur Energieerzeugung mit einem Atomreaktor gekoppelt werden, der ohne Neutroneninjektion von außen nicht funktioniert.
Das neue Konzept greift den Gedanken des „Thorium-Uran- Brüters“ aus der Frühzeit der Reaktorentwicklung auf. Der wurde in den 60ern u.a. deshalb nicht weiterverfolgt, weil sich die führenden Nuklearnationen früh auf den für die Atombombenproduktion hilfreichen Plutonium-Brennstoffkreislauf festgelegt hatten. Thorium-232, ein Schwermetall, das in der Erdkruste reichlich zur Verfügung steht, ist selbst nicht spaltbar. Es kann aber durch Beschuß mit Neutronen in spaltbares Uran-233 umgewandelt werden. Bei der Uran-233-Spaltung entstehen weitere Neutronen, die wiederum aus Thorium zusätzliches Uran-233 erbrüten können. Allerdings kommt der Prozeß in einem konventionellen Reaktor ohne zusätzlichen Kernbrennstoff rasch zum Stillstand, weil die Zahl der Neutronen nicht ausreicht, um eine Kettenreaktion in Gang zu halten. Rubbia will dieses Defizit überwinden, indem er den Reaktor von außen mit Hilfe eines Teilchenbeschleunigers mit zusätzlichen Neutronen versorgt. Dadurch kippt das Gleichgewicht. Aus Thorium entsteht laufend Uran, das anschließend zerfällt und dabei Wärme erzeugt. Die kann, ähnlich wie in einem konventionellen Leichtwassermeiler, zur Produktion von Strom genutzt werden. Ein solcher „Turbo-Reaktor“ kann nicht „durchgehen“ wie ein konventioneller Leichtwasserreaktor, weil die Kettenreaktion zusammenbricht, sobald die äußere Neutronenquelle abgeschaltet wird. Die Kernphysiker nennen das eine „unterkritische“ Anordnung.
Als Neutronenlieferant schwebt dem Nobelpreisträger eine sogenannte Spallationsneutronenquelle (SQ) vor, ein Gerät für die Großforschung, das sich in der Vergangenheit in Labors in England, Japan und den USA bewährt hat. Bei der „Spallation“ werden positiv geladene Wasserstoffkerne mit hoher Geschwindigkeit auf Schwermetallplatten geschossen. Dabei entstehen unterschiedliche Elementarteilchen in großer Zahl – auch die begehrten Neutronen.
Um die grundsätzliche Machbarkeit abzuschätzen, speiste Rubbia die kernphysikalischen Randbedingungen unterschiedlicher Reaktorkonzepte in die Cern- Rechner ein. Der Brennstoff Thorium soll dabei in einem versiegelten Reaktortank angeordnet sein, aus dem nur die bei dem kombinierten Brut- und Spaltungsprozeß entstehende Hitze abgeführt wird. Der Protonenstrahl gelangt durch ein druckfestes, nur für die positiv geladenen Kerne durchlässiges „Fenster“ in die Reaktionszone. Nach einer „Aufbauphase“, in deren Verlauf die Spallationsneutronen eine zunehmende Menge spaltbares Uran-233 erbrüten, erreicht die Anordnung den Gleichgewichtszustand. Dann enthält der Tank neben Thorium ein stabiles Uran-Inventar von etwa 1,2 Prozent, das laufend zerfällt und an anderer Stelle aus Thorium neu erbrütet wird. Nach zwei bis drei Jahren sind 20 Prozent des Th-Brennstoffs verbraucht. Der dann angehäufte Spaltprodukt-Cocktail zwingt schließlich zum Austausch des Reaktorkerns. Der Anteil an Plutonium und anderen langlebigen Radioisotopen sei zu diesem Zeitpunkt „vollständig vernachlässigbar“, behauptet Rubbia.
Der hochenergetische Protonenstrahl, der die Reaktion von außen in Gang hält, ist nicht einfach da. Seine Erzeugung in Teilchenbeschleunigern frißt Energie. Allerdings, so jedenfalls spucken es die Computer aus, 40mal weniger, als der Reaktor am Ende leistet. Rubbia nennt sein Kind deshalb nicht Reaktor, sondern bescheiden Energieverstärker. Aus einem 7 Megawatt starken Protonenstrahl könnten so 280 Megawatt Wärme und etwa 100 Megawatt Strom erzeugt werden.
Nach vier Jahren erwartet der Kernphysiker ein Plutonium- und Neptunium-Inventar von jeweils weniger als einem Kilogramm. Zum Vergleich: Ein mit leicht angereichertem Uran-235 betriebener 1.300-Megawatt-Reaktor produziert pro Jahr mehrere hundert Kilogramm Plutonium und andere langlebige Isotope.
Doch die Sache hat gleich mehrere Haken: Andere Spaltprodukte, mit Halbwertszeiten von bis zu 400 Jahren, würden auch in Rubbias Maschine in großen Mengen anfallen. Außerdem auch die langlebigen Isotope Technetium-99 und Jod-129. Schließlich muß auch der Brutstoff Uran-233 sicher langzeitgelagert werden. Er zählt zu den wichtigsten Alphastrahlern (Halbwertszeit: 159.000 Jahre). Rubbias Behauptung, der in seinen Zukunftsreaktoren produzierte Atommüll sei nach 300 Jahren kaum gefährlicher als natürliches Uran, deshalb müsse er auch nur so lange sicher gelagert werden, gehört wohl eher in die Rubrik Wunschdenken.
Seine 100-Megawatt-Energieverstärker könnten in Modulbauweise zu Kraftwerken heutiger Größe zusammengebaut werden, glaubt Rubbia, und ökonomisch mit ihnen konkurrieren. Seine Energiepakete kann sich Rubbia auch als Exportschlager für Entwicklungsländer vorstellen. Das Handling des verbrauchten Reaktorinventars wäre vergleichsweise unproblematisch. Material für die Bombe lasse sich aus den Reaktionsprodukten mit vernünftigem Aufwand nicht isolieren.
Kollegen Rubbias halten es für eine „Pflicht“ der Kernphysiker, „diese mögliche Energiequelle auf der Basis des heutigen Wissens“ zu überprüfen. Allerdings werfen sie Rubbia vor, wieder einmal zu früh vorgeprescht zu sein. Die Sache sei unausgegoren. Erhebliche, wenn nicht unüberwindbare Probleme bereite voraussichtlich der Sprung von den bisher für experimentelle Anwendungen genutzten kleinen Schwermetall-Targets zu einer Reaktor-Anordnung, die immerhin etwa einen Kubikmeter Raum einnehme. Wenn die im Computer simulierten komplexen Kernreaktionen nur um wenige Prozent neben der Realität lägen, könne dies schon „den Tod des Systems bedeuten“. Zudem brauche die von dem Nobelpreisträger vorgeschlagene Anordnung möglicherweise Jahre, um den für die Energieproduktion notwendigen Gleichgewichtszustand zu erreichen.
Lothar Hahn, Physiker am Ökoinstitut in Darmstadt, will das Konzept wegen „zahlloser ungeklärter Fragen“ noch nicht abschließend beurteilen. Jedenfalls sei mit Rubbias „Energieverstärker“ weder das Entsorgungs- noch das Sicherheitsproblem geklärt. Es entstünden weiter große Frachten gefährlicher Strahlenstoffe. Außerdem müsse untersucht werden, ob nicht die Nachwärmeproduktion der Spaltprodukte am Ende eines Reaktorzyklus wie in einem konventionellen Meiler schwerste Unfälle auslösen könnte.
Bisher gibt es die neue Energiequelle nur im Gehirn des Carlo Rubbia und in dem der Genfer Großrechner. Eine experimentelle Überprüfung sei „dringlich“, sagt Rubbia. Zur Realisierung seines nuklearen „Energieverstärkers“ veranschlagt er 20 bis 30 Jahre. Die aktuelle Akzeptanzkrise der Atomenergie ist damit nicht zu lösen. Entsprechend reserviert reagiert bisher die Atombranche auf den Vorstoß aus Genf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen