: Zwischen Kiew, Bratislava und Budapest
Autonomiebestrebungen in der Karpatoukraine alarmieren die Regierung in Kiew: Da die Vielvölkerregion vor dem Zweiten Weltkrieg zu Ungarn und der Slowakei gehörte, fürchtet sie auch jetzt den Einfluß der Nachbarstaaten ■ Von Klaus Bachmann
Die entscheidende Sitzung des karpatoukrainischen Regionalparlaments sollte am 29. Oktober stattfinden, Thema: „Autonomie für die Karpatoukraine.“ Bei den örtlichen, westukrainischen und Kiewer Nationalisten läuteten die Alarmglocken. Für sie steckt hinter den karpatischen Autonomieforderungen nichts anderes als der Versuch, die Karpatoukraine von der Ukraine loszureißen. So gründeten die wichtigsten nationalen und nationalistischen Parteien in Užgorod zehn Tage vor der Sitzung ein „Komitee zur Bekämpfung des Separatismus“, und die paramilitärische „Ukrainische Nationale Selbstverteidigung“ (UNSO) organisierte den größten Aufmarsch ihrer zweijährigen Geschichte: Mehrere hundert UNSO- Wehrsportler wurden aus den benachbarten Regionen zusammengezogen. Am 29. Oktober tagte das Parlament zwar unter dem Schutz von mit Maschinenpistolen bewaffneten Polizeieinheiten, doch der Tagesordnungspunkt „Autonomie“ war abgesetzt worden.
UNSO wurde inzwischen landesweit gesetzlich verboten, doch Repressionen gegen seine Organisation konnte Eduard Schufritsch, Užgoroder UNSO-Chef, bisher nicht feststellen. Zum Pressegespräch erscheint der etwas über zwanzigjährige Kettenraucher mit einer diskreten Leibwache. „Das Regionalparlament will die Karpatoukraine mit Hilfe der Autonomie und der Einrichtung einer freien Wirtschaftszone von der Ukraine losreißen“, erklärt er forsch. „Die halten die ukrainische Hoheit über die Karpatenregion nur für vorübergehend und spekulieren auf historische Sentiments.“
Deren gibt es in der Tat genug. Im neunzehnten Jahrhundert gehörte die Gegend um Užgorod zur Habsburgermonarchie, nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich unterstand sie Budapest. Nach dem Zerfall der Monarchie gehörte sie erst zur Tschechoslowakei, nach deren Zerschlagung wurde sie innerhalb der Slowakei autonom. 1938 rief die autonome proukrainische Regierung die Unabhängigkeit aus und wurde daraufhin sofort von polnischen und ungarischen Truppen überrannt und wieder Ungarn angegliedert. Nach dem Krieg vereinnahmte sie Stalin für die Sowjetukraine.
Vom Krieg kaum zerstört, hat diese Vielvölkervergangenheit in Užgorod zahllose Spuren hinterlassen. Volodimir Prichodka, stellvertretender Präsidialverwalter der Karpatoukraine: „In unserer Region leben 70 verschiedene Nationalitäten, davon 30 in geschlossenen Siedlungsräumen, 28 Konfessionen, von denen 17 eigene Strukturen haben.“ Auf den Straßen der Stadt unterhalten sich die Menschen auf ukrainisch, russisch, ungarisch, slowakisch, polnisch und rumänisch, sie gehen in orthodoxe, römisch-katholische, griechisch-katholische, reformierte, adventistische und jüdische Gotteshäuser. Halina Makarova von der in der Region gerade 860 Angehörige zählenden polnischen Minderheit: „Eine Diskriminierung findet praktisch nicht statt, denn fast jeder in dieser Stadt gehört irgendwie einer Minderheit an.“
Doch Halina Makarova hat den Vorteil, einer Nation anzugehören, zu deren Staat die Karpatoukraine nie gehört hat. Niemand verdächtigt sie, Užgorod Polen angliedern zu wollen. Anders ist dies bei den Slowaken und vor allem bei der ungarischen Minderheit, die im Südosten in manchen Bezirken die Mehrheit stellt und nach offiziellen Angaben mit 180.000 Einwohnern 14 Prozent der 1,3 Millionen Bewohner der Region ausmacht. Die Ungarn haben ihre eigenen Medien, Schulen, Kirchen und eine Organisation, die ihre politischen Ambitionen keineswegs verhehlt. Sie residiert in der Innenstadt von Užgorod, am malerischen Ufer der Už in einem Häuschen, das von der Vereinigungen der Ungarn selbst finanziert wird. Im Sitzungssaal hängt eine ungarische Flagge von solchen Ausmaßen, daß sich der Vorsitzende Sandor Fodo sogleich zu Erklärungen genötigt sieht: „Wenn man uns vorwirft, wir hätten keine ukrainische Flagge, dann sage ich, wir haben auch keine ungarische, den dieser hier fehlt das Wappen.“
Fodo hält, unterstützt von seinen Stellvertretern, eine dröhnende Rede über die Diskriminierung der Ungarn in der Ukraine. Besonders bringt ihn auf die Palme, daß seine Organisation für zwei von ungarischen Spendern geschenkte Gebrauchtwagen 2.000 Dollar Zoll zahlen soll. „Als Minderheit sollten die Ukrainer uns unterstützen, nicht wir sie.“ Vor dem Hintergrund einer umfangreichen gerade ausgepackten Computerausrüstung, deren Verpackung sich im Raum stapelt, setzt er zu einer vernichtenden Kritik der ukrainischen Minderheitenpolitik an: „Die offiziellen Zahlen über unsere Stärke sind viel zu niedrig. Nach dem Krieg wurden Zehntausende Ungarn in sowjetische Lager verschleppt. Wer dagegen sagte, er sei Slowake, durfte bleiben. Diese Leute haben bis heute im Paß als Nationalität „slowakisch“ stehen. Außerdem wurden sowieso alle griechisch-katholischen Ungarn zu Ukrainern erklärt.“
In der Westukraine gilt die griechisch-katholische Konfession als die ukrainische Nationalkirche, seit sich im sechzehnten Jahrhundert ein Teil der orthodoxen Kirche in der Brester Union dem Papst unterstellte. Lithurgisch unterscheiden sich beide Kirchen kaum, doch die Animositäten zwischen ihnen sind bis heute geblieben. Vor dem Krieg gehörten allerdings nicht nur Ukrainer zur griechisch-katholischen Kirche, sondern auch Ungarn aus der Karpatoukraine, von denen viele in Wirklichkeit Ukrainer gewesen waren, die zu Habsburgerzeiten unter ungarischer Verwaltung madjarisiert worden waren. So genügt ein Stichwort in Užgorod, und unversehens wird man in einen bis ins Mittelalter zurückgehenden Geschichtsstreit verwickelt.
Fodo kommt so zum Schluß, daß in der Karpatoukraine knapp 240.000 Ungarn lebten und ihr Bevölkerungsanteil in der Kleinstadt Beregovo zum Beispiel bei 70 Prozent liege. Deshalb verlangen die Ungarn nicht nur Autonomie für die Karpatoukraine, sondern auch für die ungarischen Mehrheitsbezirke in der Ukraine sowie kulturelle Autonomie für alle Ungarn in der Ukraine. Gute Beziehungen unterhält Fodo auch zu der ruthenischen Bewegung, die ihrerseits behauptet, 800.000 Ruthenen zu vertreten, und erst in den letzten zwei Jahren von sich reden machte.
Die Bezeichnung „Ruthenen“ ist nichts anderes als die latinisierte Form von Rus, wie der mittelalterliche Kiewer Staat hieß. Unter den Habsburgern wurde er zur amtlichen Bezeichnung für die in der Monarchie lebenden Ukrainer. Im 19. Jahrhundert spaltete sich die ukrainische Nationalbewegung in eine prorussische und eine national-ukrainische. Anhänger der ersteren nennen sich bis heute Ruthenen und beharren darauf, neben den Ukrainern ein eigenes Volk zu bilden. Wie die Ungarn aus Budapest, so erhalten die Ruthenen aus Bratislava politische Unterstützung, denn in der Ostslowakei leben neben rund 17.000 Ukrainern noch einmal genauso viele Ruthenen. In der Ostslowakei werden den slowakischen Ukrainern separatistische Tendenzen nachgesagt, in der Karpatoukraine den Ruthenen. In der Slowakei gilt die ukrainische Bewegung als kommunistisch inspiriert, in der Karpatoukraine die ruthenische.
Allein schon das würde genügen, in Kiew den Verdacht zu erwecken, daß hinter der Forderung nach Autonomie für die Karpatoukraine mehr steckt als nur der Wille, die eigenen Angelegenheiten in die eigene Hand zu nehmen. Denn die Karpatoukraine ist das Tor der Ukraine zum Westen. Volodimir Prichodka: „Wir haben jährlich 12 Millionen Transitreisende, fünf Gaspipelines gehen durch unsere Region, 60 Prozent des ukrainischen Eisenbahnverkehrs nach Westeuropa werden über den Knotenpunkt Čop abgewickelt.“ Kein Wunder, daß die Zeitungen in der Westukraine und zum Teil auch Kiew in den Aktivitäten der ungarischen und ruthenischen Minderheit der Karpatoukraine, in den Autonomiebestrebungen in Užgorod vor allem eines sehen: ein Komplott Moskaus und Bratislavas, das strategisch und wirtschaftlich wichtige Gebiet von der Ukraine zu lösen und damit über die Schwächung der Ukraine deren schleichenden Anschluß an Rußland vorzubereiten. Nationalist Schufritsch: „Rußland will die Karpatoukraine nur von der Ukraine lösen, die Slowakei und Ungarn wollen sie schlicht für sich.“
Ivan Čurko, stellvertretender Vorsitzender des Regionalparlaments, weist alle Verdächtigungen weit von sich: „Beim Referendum von 1991 haben 78 Prozent der Bewohner unserer Region für die Einführung der Selbstverwaltung gestimmt, aber zugleich 92 Prozent für die ukrainische Unabhängigkeit; das ist mehr als in der nationalukrainischen Hochburg Lemberg. Die Debatte über die freie Wirtschaftszone und die Autonomieforderung wurde in Kiew unnötig politisiert. Uns geht es vor allem um eine wirtschaftliche Verbesserung.“ Čurko ist auch Užgoroder Vertreter im Rat der mit polnischen, ungarischen und slowakischen Bezirken gebildeten „Euroregion Karpaten“, die für Eduard Schufritsch vor allem den Sinn hat, „den Einfluß Ungarns in dieser Region abzusichern“. Denn was solle Ungarn wohl sonst in einer Euroregion Karpaten, ohne selbst Karpatenland zu sein.
In Kiew scheint man diese Ansicht zu teilen, denn schon kurz nach dem Beitritt der Karpatoukraine traten der Euroregion auch sicherheitshalber noch Lemberg, Ivano-Frankivsk und Tschernowitz bei. Diese Befürchtungen sind zumindest verfrüht, denn die „Euroregion“ ist einstweilen nichts anderes als ein Debattierklub der grenznahen Kommunalpolitiker.
Ganz unberechtigt sind die Kiewer Ängste indessen nicht. Angesichts des faktischen Zusammenbruchs der ukrainischen Wirtschaft erhalten Träume von den „guten slowakischen Zeiten“ bei manchem Užgoroder wieder Auftrieb. Mit Ungarn hat die Ukraine bereits Mitte des Jahres einen Nachbarschaftsvertrag geschlossen, in dem allen Gebietsansprüchen eine Absage erteilt wird. Sandor Fodo betont zwar, die ukrainischen Ungarn seien „loyale Bürger der Ukraine“, gibt aber zugleich zu, „daß sich viele unserer Leute bis heute nicht damit abgefunden haben, daß Ungarn damit fünf Millionen Auslandsungarn aufgegeben hat.“
Unmittelbar nach der Vertragsunterzeichnung gründete sich indessen die grenzüberschreitende „Vorläufige Ruthenische Regierung“, die für sich in Anspruch nimmt, für jene angeblich 800.000 Ruthenen zu sprechen, die in der Karpatoukraine und der Slowakei leben. Den Posten des Vizepremierministers bot Ruthenenchef Iwan Turjanica Sandor Fodo an, der ablehnte. „Mit dieser Art von Separatismus wollen wir nichts zu tun haben“, sagt Fodo, „aber auch nichts mit jenen ukrainischen Nationalisten, die behaupten, Ruthenen gebe es überhaupt nicht.“
Auch Volodimir Prichodka, in Užgorod offizieller Vertreter der Kiewer Zentralmacht, wiegelt ab: „Wir haben die Möglichkeit geschaffen, als Nationalität auch ,ruthenisch‘ in den Paß einzutragen. Davon haben bisher 50 Bürger Gebrauch gemacht.“ Eduard Schufritsch: „Ein Ruthene zu sein, ist keine Nationalität, sondern ein Beruf, noch dazu ein gutbezahlter.
Die ruthenische Bewegung entstand 1989 aus einer Initiative von KGB und lokalen KP-Strukturen.“ Dafür spricht, daß der „Außenminister“ der „provisorischen Regierung“ in der Slowakei, Vladimír Mohorita, früher Chef des kommunistischen Jugendverbandes der ČSSR war. Tatsächlich befindet sich das Zentrum der ruthenischen Bewegung nämlich gar nicht in der Karpatoukraine, sondern im ostslowakischen Prešov, wo es inzwischen mehr als ein halbes Dutzend ukrainischer, ruthenischer und ukrainisch-ruthenischer Organisationen gibt. Kiew verdächtigt daher Bratislava, mit deren Hilfe den transkarpatischen Separatismus zu schüren. Vasil Scheregi, Užgoroder Chef der ukrainischen Nationalbewegung Ruch: „Das griechisch-katholische Kloster in Michalovce in der Ostslowakei schickt Emissäre in die Karpatoukraine, die unter ihren ukrainischen Glaubensbrüdern Propaganda für die ruthenische Bewegung machen.“
Die Entscheidung der Slowakei, das ukrainische Museum von Prešov den slowakischen Ruthenen zu übergeben, hat indessen zu einem Sturm der Entrüstung in der westukrainischen Presse geführt. Eduard Schufritsch: „Nicht die Ruthenen sind gefährlich, sondern die Art und Weise, wie Politik gemacht wird, wie versucht wird, die ukrainische Bewegung zu spalten und die einzelnen Volksgruppen gegeneinander auszuspielen. Nicht fünfzig Ruthenen in Užgorod sind das Problem, sondern die Tatsache, daß Ungarn und die Slowakei eine unabhängige Karpatoukraine wollen.“
So leben sich Užgorod und Kiew immer weiter auseinander. Volodimir Lomonossov, Vizebürgermeister von Ugorod: „In Kiew will man nicht verstehen, daß dieses Land nur dezentralisiert eine Chance hat. Jede Art von Dezentralisierung gilt als Separatismus.“ Nimmt man die ukrainisch-nationalen Parteien aus, sind fast alle in der Stadt für Autonomie und freie Wirtschaftszone. So entstand eine seltsame Koalition aus Minderheiten, die sich von der Autonomie einen Schutz gegen Assimilierung und den ukrainischen Nationalismus erhoffen. Von einfachen Bürgern, die die Absicht haben, sich vom Zusammenbruch der ukrainischen Wirtschaft abzukoppeln. Von der postkommunistischen Nomenklatura, die meint, ihren Einfluß so noch eine Weile behalten zu können.
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