: „Und dennoch sind wir am Leben“
Jahresende in der bosnischen Hauptstadt / Zumreta Besgalićs Widerstand ■ Aus Sarajevo Adelino Gomes
Zum Jahresausgang will die Muslimin Zumreta Besgalić Kuchen backen, ohne Schokolade, Zucker oder Butter. Eine andere Form des Widerstands, die sie gemein hat mit vielen Frauen, wie auch die Angewohnheit, jeden Tag geschminkt und im Sonntagsstaat auf jener Straße spazieren zu gehen, wo wenige Stunden vor Mitternacht am Silvesterabend sieben Geschosse einschlugen.
Mit schreiend rotem Hut und einem langen Pelzmantel überquert sie die Straße voller geschlossener Geschäfte im Muslimviertel Baščažija und schlägt den Weg zu Unis-Tours ein – eine Art Staatskooperative, wo Händler die letzten vom Krieg verschonten Vorräte verscherbeln.
Bevor die morgendliche Kälte ihre Wangen gefrieren läßt, hört die in Tuzla geborene Zumreta Kindergeplapper auf der Straße – und sie weiß: Die Artillerie schläft noch, nach den wilden Weihnachtstagen. In wenigen Minuten aber wird sie erwachen: „Das Geschoß wählt nicht selbst seine Stunde, sein Ziel oder den Namen seines Opfers.“ Aber heute, wie jeden Tag und bis ihre Schönheit und ihre Kraft versiegt, bietet Besgalić ihr geschminktes Gesicht dem Tschetnik-Sniper an, der darüber in jeder Sekunde die Verfügungsgewalt ausübt. „Ich kleide mich absichtlich so. Ich gehe öfter zum Friseur als zu Friedenszeiten. Auf diese Weise sage ich den Tschetniks, daß meine Moral noch intakt ist. Das ist mein Widerstand.“ Ein allgemeiner Widerstand, so scheint es – diesen Eindruck hinterläßt das Bild dieser Frauen, die nicht weniger gut gekleidet sind als ihre Schwestern in der EU.
Seit zwei Jahren kennt Besgalić Zumreta, 42 Jahre alt, die Grenzen des Schmerzes, der Freude und der Einsamkeit. 1992 ließ sie sich scheiden und hinterließ ihrem Mann den Kurzwarenladen, an dessen durchlöcherten Mauern sie jetzt vorbeigeht. Zwei Monate später begann der Krieg. Im Mai wurde sie von einem Geschoß ins Bein getroffen. Auch ihr Schwiegersohn wurde verwundet. Im August wurde ihre erste Enkelin geboren, Anfang Dezember die zweite.
Diese Enkelinnen und ihre Schwester Leila, eine arbeitslose Chemikerin, wollte sie besuchen, als die Artillerie auf den Hügeln über dem Miljačka-Fluß den Sebilj-Platz leerfegte, da, wo schon vor Monaten ein gelber Lastwagen, getroffen, endgültig zum Stillstand kam, neben dem Holzkiosk, der die Straße nach Baščažija markiert. Maschinengewehre knatterten, Geschosse schlugen ein und brachten ihr die seit 20 Monaten existierenden Grenzen in Erinnerung: Hinter dem Trebević-Berghang, rechts, und Lapisnica, Borije, Mrkovici und Pljine, beginnt der Stacheldraht, das verbotene Terrain, das „gestohlene Land“.
Über der Stadt im Tal scheint die Sonne am blauen Himmel, aber der Nebel hat die Berge noch nicht freigegeben, für die Schützen sind die Passanten noch unsichtbar.
Daher zieht Besgalić es vor, ihre Familie nach der Arbeit zu besuchen, wie jeden Tag. Um mit einer Freundin zu plaudern und ihr Brot zu bringen, hält sie inne, auch um durch die Tür einer der wenigen offenen Läden in diesem alten rechteckigen Stadtviertel aus dem 16. Jahrhundert zu treten und mit der Besitzerin zu reden. Die Vitrine mit leeren Aquarien, deren Eigentümer schon vor langer Zeit beim Klempner gegenüber Schutz gesucht hat, würdigt sie kaum eines Blickes. Strommangel und Wasserknappheit haben gleichzeitig sein Geschäft zum Erliegen gebracht und seine Fische getötet.
Um den Neujahrskuchen zu backen, will Besgalić Zwiebeln kaufen. Sie geht zum Schwarzmarkt. Ein Luxus, der sie 20 DM kosten wird – das zwanzigfache Gehalt des Direktors der medizinischen Fakultät, Nedžad Mulabegovič, der unter pfeifenden Kugeln an diesem Nachmittag zum Holiday Inn eilen wird, um ein Paket mit Kaffee, Schokolade und Seife abzuholen. Auf der anderen Straßenseite verkünden Trauben junger Frauen und Männer mit gesenkten Stimmen die Ankunft von Tabak, Cognac, Konservendosen und Zahnpasta. Auf der Tito-Avenue spaziert eine schweigende Menge – als ob, genau wie im angolanischen Huambo, die Kugeln nicht nur Bäume gespalten, Häuser zerstört, Fahrzeuge verbrannt und Straßen aufgerissen, sondern auch die Stimmen zum Schweigen gebracht hätten. Sie gucken, sie wägen ab, sie kaufen, aber zumeist laufen sie einfach herum, hinter sich Einkaufswägelchen mit Wasserkanistern oder Feuerholz, als ob die ganze Welt auf ihren Schultern lastet.
Noch ehe 24 Stunden vergangen sind, fallen plötzlich sieben Geschosse auf dieses vernebelte Viertel, auf ein Hotel und einen Ladenkomplex in der Nähe des Schwarzmarkts. „Wie werde ich meinem Sohn sagen, daß seine Mutter tot ist?“ weint ein Mann am Kosevo- Krankenhaus, wo eben seine Frau und ein Arzt tot eingeliefert worden sind, zusammen mit 20 Verletzten. „Das Silvestergeschenk der Tschetniks.“
Ohne Schokolade, Zucker (70 Dollar für ein Kilo) und mit nur ganz wenig Butter backt Besgalić an diesem Abend für ihre Töchter und Enkelinnen bittere Kuchen bei Kerzenlicht – bitter wie diese zweite Kriegsneujahrsnacht. Die Kuchenstücke bleiben im Hals stecken, wie auch das schlechte Gewissen uns die Gurgel zuschnürt: diese zugleich anerkennenden und anklagenden Blicke. „Wenn ihr es wolltet, wenn die EG es wollte, würden die Schüsse und Bombardements von einem Augenblick zum nächsten aufhören“, heißt es da, oder: „Ah! Lissabon... fünf Tage nach Lissabon gehen und sterben.“ Ein ehemaliger Heizer sagte das in der Rotkreuz-Suppenküche (zwei Brötchen, drei Löffel Bohnen und ein bißchen Paté für ihn und seine Frau), als er erfuhr, daß der Berichterstatter Portugiese ist...
„Alles hat sich verändert in unserem Leben. Wir sind nur noch Schatten. Aber man wird mich nicht daran hindern, das neue Jahr zu feiern.“ Zumreta Besgalić weiß nicht einmal, daß an diesem Abend Barbara Hendricks ihre großartige Stimme mit dem Gaudeamus-Chor von Sarajevo vereinen wird, um mit alten bosnischen Liedern das neue Jahr und den Frieden zu feiern, wie sie es schon vor zwei Jahren in Dubrovnik wollte. Sie weiß noch weniger, daß eine der Stimmen, die sich in die Nacht erheben werden, der blonden jungen Vildana gehört, Medizinstudentin im ersten Semester, die um das kämpft, was ihr jetzt am teuersten ist und was 300.000 Widerstandskämpfer in der belagerten Stadt, einst Symbol der ethnischen Toleranz, der Kultur und der universellen Werte, vereint: „Ich singe, um normal zu sein.“
Besgalić erzählt. „Eine jüdische Bosnierin, eine Schriftstellerin, hat uns die schrecklichen Zustände beschrieben, die sie im KZ Mauthausen erlebte. Wir haben nicht mehr Brot als sie. Der einzige Unterschied ist, daß hier niemand zur Arbeit gezwungen wird. 80 Prozent der Bewohner Sarajevos haben nicht das geringste Stück Feuerholz. Und viele haben Hunger.“ Sie blickt auf die Flamme in ihrem brennenden Ofen. „Und dennoch sind wir am Leben.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen