: US-Ethiker kritisieren atomare Logik
Kaum hatte Bill Clinton am Montag die Untersuchung der atomaren Menschenversuche aus den vierziger, fünfziger und sechziger Jahren zur Chefsache erklärt, meldeten sich Theologen und Ethiker zu Wort, die die Atompolitik jener Jahre verurteilten und nun eine Entschädigung der Opfer fordern. Mindestens 18 Menschen wurde damals Plutonium injiziert, um den Einfluß radioaktiven Materials auf den menschlichen Körper zu verfolgen.
Mit ihrer Entscheidung, die genauen Umstände der Strahlenexperimente der vierziger bis sechziger Jahre aufzudecken und die mutmaßlichen Opfer zu entschädigen, wird die Clinton-Regierung eines der dunkelsten Kapitel des Kalten Krieges aufzuarbeiten haben. Nachdem US-Energieministerin Hazel O'Leary im vergangenen Monat bestätigt hatte, daß seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mindestens 800 Personen verschiedensten Experimenten mit dem hochradioaktiven Plutonium ausgesetzt gewesen seien, und ein Sondertelefon für die mutmaßlichen Opfer eingerichtet hat, gehen täglich bis zu 10.000 Anrufe ein.
Nach den bisherigen Veröffentlichungen wurde in einem Versuch 18 Menschen Plutonium injiziert, um den Einfluß radioaktiven Materials auf den menschlichen Körper zu verfolgen. Geklärt werden muß noch, inwieweit die Versuchspersonen über die Gefährlichkeit dieser Tests informiert waren beziehungsweise ihre Zustimmung dazu gegeben hatten.
Bei einem anderen Versuch wurde in einer Sonderschule für geistig Behinderte Jugendliche zum Frühstück radioaktive Milch verabreicht, Hunderte schwangere Frauen schluckten radioaktive Tabletten, womit die Wirkung von Strahlung auf Embryos erforscht werden sollte. Und Neugeborene erhielten radioaktives Jod, weil Wissenschaftler hofften, auf diesem Wege ein Heilmittel gegen Kehlkopferkrankungen zu finden.
Kaum hatte Bill Clinton die Untersuchung zur Chefsache erklärt und mehrere Ministerien zur Sichtung der Zehntausenden von Akten angewiesen, meldeten sich zahllose Theologen und Ethiker zu Wort. Für die meisten ist sonnenklar, daß die Regierung moralisch verpflichtet ist, die Opfer großzügig zu entschädigen und ihnen, soweit noch möglich, jede erdenkliche medizinische Hilfe zukommen zu lassen.
In der Bewertung der Tests und ihrer Folgen äußerten sich katholische, protestantische und jüdische Theologen allerdings recht unterschiedlich. Leroy McCarthys, Professor für Christliche Ethik an der Universtität von Georgetown, will geklärt wissen, erstens ob die Opfer in die Test eingewilligt haben, und zweitens ob sie dabei dauerhafte körperliche Schäden davongetragen haben. „Sollte jemand zu Schaden gekommen sein, egal ob mit oder ohne Zustimmung, dann muß die Bundesregierung für die Heilung der dieser Kranken geradestehen“, sagte McCarthy. „Wenn Personen über ihre bevorstehende Beteiligung am Versuch nichts erzählt worden ist, sie also nicht einwilligen konnten, aber auch nicht erkrankt sind, dann sollte sich die Regierung bei ihnen entschuldigen für diese Verletzung der grundlegendsten Regeln medizinischer Ethik.“
Der Dominikanerpriester Albert Moraczewski vom Bioethischen Zentrum „Papst Johannes XXIII.“ in Boston gab zu bedenken, daß man bei der Beurteilung dessen, ob Menschen damals „unrechtmäßig“ behandelt worden seien, nicht die heutigen ethischen Standards zugrunde legen dürfe. „Wir müssen vorsichtig sein, Wissenschaftler vorhergehender Generationen an unseren Normen zu messen. “
Ganz anders dagegen Rabbi Alex Schindler. Der Vorsitzende der Vereinigung jüdisch-amerikanischer Kongregationen bezeichnete die Plutoniumexperimente als „himmelschreienden Skandal.“ Entschädigung sei wohl das mindeste, was die US-Regierung in diesen Fällen leisten müsse. Und: „Es muß sichergestellt werden, daß so etwas nie wieder passiert.“ Denn, so der Rabbi, die Tatsache, daß hier Menschen ohne ihr Wissen und ohne Einwilligung Opfer medizinischer Versuche geworden seien, erinnere ihn stark an die Erfahrungen der Insassen von deutschen Konzentrationslagern während der Nazizeit.
Ronald Cole-Turner, Theologie- und Ethikprofessor am Theologischen Seminar von Memphis im Bundesstaat Tennessee, entschuldigte das „gedankenlose Vorgehen“ jener Jahre mit der „legitimen Furcht“ der US-Regierung vor einem Atomkrieg. Er sagte, die Versuche hätten den Forschern auf jeden Fall die gefährlichen Folgen radioaktiver Strahlung gezeigt. Wodurch immerhin ein Krieges mit Atomwaffen unwahrscheinlicher geworden sei. „Infolgedessen sind wir den Menschen, die an diesen Experimenten teilgenommen haben, zu großem Dank verpflichtet“, so Cole-Turner, „von daher sollten wir die Leute für das, was wir aus ihren Erfahrungen lernen durften, entschädigen.“ Ihn störe vor allem, daß man für solche Experimente wie immer die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft auserwählt habe.
Wenn es jetzt darangeht, die Unterlagen über die fragwürdigen, menschenverachtenden Experimente jener Jahre auszuwerten, müssen sich verschiedenste US- Behörden der Verantwortung warm anziehen. Viele der Plutoniumversuche wurden unterstützt durch die ehemalige Atombehörde, Vorgängerin des heutigen Energieministeriums. Aber auch das Verteidigungsministerium und die Weltraumbehörde NASA waren verwickelt. Und, last not least, waren nach einem CIA-Bericht aus 1975 auch die US-Geheimdienstler mit von der Partie; die CIA hat Studien angefertigt über die möglichen Folgen, die radioaktive Strahlung bei Menschen bewirke.
Präsident Clinton bat die interdisziplinäre Arbeitsgruppe, die sich am Montag in Washington versammelte, ihre Nachforschungen zu koordinieren und die Ergebnisse zu veröffentlichen. Hera
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