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Aufnahme aller westlich des Ural wäre kleineres Übel

■ Nach einem „worst-case“-Szenario kommt es in allen Staaten Osteuropas zu einer zunehmenden Renationalisierung der Außen- und Sicherheitspolitik

Schon Monate bevor Strobe Talbott letzte Woche zum Stellvertreter von US-Außenminister Warren Christopher avancierte, nahm der ehemalige Time-Journalist und Sonderbotschafter Washingtons für die exsowjetischen Republiken entscheidenden Einfluß auf die US-Außenpolitik. Mit einem Memo, das er am dritten Oktoberwochenende 1993 zu Hause verfaßte, korrigierte Talbott innerhalb von 24 Stunden die Haltung von Christopher, der (wie auch Präsident Clinton) bis dahin eine Aufnahme der „demokratischen Reformstaaten“ Polen, Ungarn und die Tschechische Republik in die Nato befürwortet hatte. Ein solcher Schritt, argumentierte Talbott, werde Moskaus Befürchtungen verstärken, vorrangiges Ziel der Nato sei die Begrenzung der russischen Macht. Darüber hinaus erschwere er die Bemühungen, die Ukraine zur Aufgabe aller noch auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen zu bewegen.

Bei einer Sitzung mit seinen außen- und sicherheitspolitischen Beratern am 18. Oktober 93 bekam Christopher zwar noch einmal zahlreiche Gründe für eine schnelle Nato-Aufnahme der drei Reformstaaten zu hören.

Doch am Ende folgte der Außenminister Talbotts Argumenten. Noch am Nachmittag wurde die neue Linie auf einer Kabinettssitzung als offizielle Position der Clinton-Regierung festgeklopft. Am nächsten Morgen flogen Christopher und der damalige Verteidigungsminister Les Aspin nach Europa, um auch die anderen 15 Nato-Staaten auf diese Haltung einzuschwören.

Das bedurfte keiner allzu großen Überzeugungsarbeit mehr. Denn bis auf den deutschen Verteidigungsminister Volker Rühe und zunächst auch Nato-Generalsekretär Manfred Wörner hatte sich im Bündnis niemand wirklich für die Aufnahme neuer Mitglieder engagiert. Großbritannien, Frankreich, Kanada und die Niederlande votierten entschieden dagegen. Die restlichen Bündnispartner hielten sich mehr oder weniger bedeckt. Versüßt werden sollte den osteuropäischen Nato-Aspiranten die Absage mit dem in Washington konzipierten Programm „Partnerschaft für den Frieden“, das etwa gemeinsame Manöver und Soldatenausbildung vorsieht sowie die Standardisierung von Waffensystemen in West- und Osteuropa. Letzteres heißt im Klartext, daß die osteuropäischen Streitkräfte sich mit den in der Nato gebräuchlichen Waffensystemen ausrüsten sollen – woran insbesondere die westlichen Rüstungsunternehmen ein großes Interesse haben.

Auf den Herbsttagungen der 16 Außen- und Verteidigungsminister machte sich die Nato Washingtons „Partnerschafts“-Programm offiziell zu eigen. Seitdem sind in der Substanz alle Festlegungen getroffen. Mitgliedschaft im Bündnis oder auch nur Sicherheitsgarantien soll es auf absehbare Zeit nicht geben. Das ist in Warschau, Prag und Budapest auch so richtig verstanden worden und erklärt die enttäuschten und harschen Äußerungen von Lech Walesa und anderen osteuropäischen Politikern. In Reaktion auf diese Kritik erweckte Bundesaußenminister Klaus Kinkel zuletzt mehrfach den Eindruck, es könne beim Nato- Gipfel über kosmetische Feinheiten des Abschlußkommuniqués hinaus in der Substanz noch etwas im Interesse der Beitrittsaspiranten bewegt werden. Die bisherige Debatte über eine Nato-Erweiterung ging im Grunde über „altes Denken“ der Zeit vor 1989 nicht hinaus und mußte daher zwangsläufig zu dem Punkt führen, an dem sie jetzt steht. Die Debatte war verengt auf die Alternative: keine Aufnahme neuer Mitglieder oder aber Aufnahme lediglich der drei oder vier (mit Slowakei) „Visegrad“-Staaten. Das konnte nur zu den seit dem „Oktoberputsch“ stetig eskalierenden Warnungen aus Moskau führen. Eine Nato- Aufnahme auch Bulgariens, Rumäniens, Rußlands und der Ukraine wurde bislang nicht diskutiert. Ein solcher Schritt wäre mit zahlreichen Problemen verbunden. Aber perfekte Lösungen stehen nicht zur Verfügung. Die Fortentwicklung der KSZE zu einer gesamteuropäischen kollektiven Sicherheitsinstitution wäre nach 1989 unter allen Umständen die bessere Option gewesen. Doch mangels Interesse der USA und anderer westlicher KSZE-Staaten ist diese Option bislang verspielt und inzwischen zunehmend unrealistisch geworden.

Das „worst-case“-Szenario der nächsten Jahre ist nach Einschätzung west- wie osteuropäischer Beobachter eine zunehmende Renationalisierung der Außen- und Sicherheitspolitiken in allen Staaten westlich des Ural. Verstärkte Verschwendung kostbarer Ressourcen für den militärischen Bereich, zunehmende Bedrohungsängste der einzelnen Staaten auch vor einander, das Schüren ethnisch-nationalistischer Konflikte, bewaffnete Grenzstreitigkeiten – das sind die möglichen Szenarien der nächsten Jahre in weiten Teilen Osteuropas. Wenn die Aufnahme aller Staaten westlich des Ural (deren Territorien bislang schon unter die bestehenden KSZE-Abrüstungsverträge fallen) in die Nato und in diesem Zusammenhang deren Umwandlung von einem Verteidigungsbündnis in ein kollektives Sicherheitssystem einer solchen Entwicklung vorbeugen könnte, wäre dieser Schritt trotz aller damit verbundenen Probleme ein erwägenswertes kleineres Übel. Andreas Zumach

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