"Die Realität holt sie erst hier ein"

■ Vielen Flüchtlingsfrauen aus dem ehemaligen Jugoslawien wird erst im deutschen Exil ihre Zukunftslosigkeit bewußt / Eine Initiative aus Neukölln kümmert sich um die in Berlin Gestrandeten

An den Wänden des Neuköllner Ladens der „Arbeiter-Wohlfahrt“ hängen Plakate. Sie sollen die leidigen Dativ- und Akkusativpräpositionen ins Gehirn hämmern. Vierzehn Frauen lernen hier die höchst widersprüchlichen, unplausiblen Grammatik-Regeln der deutschen Sprache.

In der Pause räumen sie ihre Blöcke weg und vergessen für Momente die deutsche Grammatik. Statt dessen tischen sie Beklava, eine bosnische Spezialität aus Nüssen und Blätterteig, und andere Speisen aus dem ehemaligen Jugoslawien auf.

Eine von den Deutschschülerinnen ist die 32jährige Fadila H. Sie ist aus ihrem Dorf in Bosnien geflohen, 20 Kilometer von Zvornik entfernt, als dort der Bürgerkrieg ausbrach. Seit August 1992 lebt die Muslimin mit ihren beiden Söhnen in Berlin, wo sie auch die Nachricht vom Tod ihres Mannes bekam. „Ich bin viel mit meinen Kindern und dem Haushalt beschäftigt, an meinen Beruf denke ich kaum“, sagt die ehemalige Lehrerin mit den hennaroten Haaren. Persönliche Wünsche habe sie keine, Perspektiven, die ihr Heimatland betreffen, könne sie als einzelne nicht entwickeln. Zwar lernt Fadila H. Deutsch, doch wie lange sie noch „geduldet“ wird, weiß sie nicht.

Oft begegnen den Frauen feindselig gestimmte Menschen

So wie Fadila H. wird vielen Flüchtlingsfrauen erst in ihrem deutschen Exil ihre schlechte Lage bewußt. „Sie sind davon ausgegangen, von einem europäischen Land in ein anderes zu kommen. Statt dessen begegnen ihnen die Menschen hier oft feindselig“, sagt Dragica Horvat, die seit Juli 1993 eine ABM-Stelle im Frauenladen hat. „Viele sind mit dem Willen gekommen, die Kriegserlebnisse zu vergessen oder wenigstens zu verdrängen. Aber die Realität holt sie ein, wenn sie feststellen, daß ihr neues Leben keine Zukunftsperspektiven hat.“

Für die 42jährige Germanistin ist das Hauptproblem der Frauen der völlige Verlust von allem: von Angehörigen, von Wohnungen, von Arbeitsplätzen, von ideologischen Werten. Hinzu komme aber die Unsicherheit, die sie hier hätten.

Oft werden die Ex-Jugoslawinnen in der Fremde tief depressiv

Nur 30 Prozent der Frauen fänden eine annehmbare Arbeit, die anderen verfielen oft in tiefe Depressionen. Seit Anfang Januar teilen sich zwei Frauen aus dem ehemaligen Jugoslawien eine Psychologenstelle. „Denn“, meint Horvat, „ich würde mir gar nicht zutrauen, mit den Frauen über Vergewaltigung und andere traumatische Erlebnisse zu sprechen.“

In der Weserstraße 182 werden regelmäßig 50 Flüchtlingsfrauen betreut. Zwar finden die Flüchtlingsberatungen erst seit Beginn des Krieges statt, doch den AWO- Laden gibt es schon seit 1985. Die aus Kroatien stammenden Mitarbeiterinnen berieten auch schon vorher in Deutschland lebende Frauen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Sie stellen Anträge auf Duldung, Sozialhilfe, besorgen Unterkünfte und übersetzen bei Arztbesuchen und Behördengängen. Die Betreuerinnen organisieren auch Ausflüge nach Potsdam, in die Oper oder ins Theater. „Wir wollen die Frauen auf andere Gedanken bringen und ihnen dabei helfen, sich mit ihrem neuen Wohnort bekannt zu machen“, sagt Jasenka Villbrandt, die seit 1985 in dem Frauenladen arbeitet.

Ablenkung suchen – im Theater, in der Oper

Die Diplompädagogin ist froh, daß sie in Kroatien niemanden zurückgelassen hat, „um den ich mich sorgen müßte“. Ihre Frauen mache es oft „wahnsinnig“, hier, in der Fremde, Lebensmittel im Überfluß zu haben, gleichzeitig aber über Funk mit ihren Angehörigen zu sprechen, denen es an allem mangelte.

Die Flüchtlingsfrauen kommen aus allen Altersstufen und aus allen Teilen des ehemaligen Jugoslawien. In den Deutschkursen wird zwar durchaus über den Bürgerkrieg gesprochen. Aber die Frauen „bekommen sich nicht so weit in die Haare, daß sie nicht zusammen lernen und arbeiten könnten“, sagt Villbrandt.

„Frauen leiden weniger unter dem ideologischen Druck, ihre Heimat verteidigen zu müssen. Sie können die Aggressoren von den anderen Leuten differenzieren, die genauso geflüchtet sind wie sie selbst“, sagt dazu ergänzend ihre Kollegin Horvat. Vielen Frauen hätten gerade Menschen anderer Nationalitäten geholfen zu fliehen. In Sarajevo würden BosnierInnen, KroatInnen und SerbInnen gleichermaßen unter den politischen Führern leiden. Für Horvat geht es „in diesem Krieg nicht um verschiedene Nationalitäten, sondern um Macht und Eroberungen“. Juliane Echternkamp