: The Bluessinger
Bob Dylan und The Never Ending Text. Ein Essay über Vor- und Nachkriegsblues, Computerkonkordanzen, Memphis Minnie und McLuhan ■ Von Michael Gray
World gone wrong“ heißt Bob Dylans jüngste Platte – Songs, die von einer danebengegangenen Welt handeln, amerikanische Traditionals alle, wie schon die Stücke auf „Good as I been to you“, dem Vorgänger von 1992. Erzählt wird von Zügen und Menschen, von den Opfern von Politik und Wirtschaft „colliding on tracks“ – die auf Schienen zusammentreffen (wie Landstreicher und andere Outcasts es zu tun pflegen). Die „tracks“, von denen Dylan in den ,Liner Notes‘ spricht, greifen aber nicht nur die Wanderbewegungen der großen Depression auf, in der viele der Songs entstanden sind, sie meinen auch die „tracks“ als Tonspur, den Ort, an dem vergessene Traditionen plötzlich unvermutet mit der Gegenwart kollidieren. Anwesend sind sie nicht als simple Narration, sondern im „low hum in meters & syllables“ – dem dunklen Brummen der Rhythmen und Silben, in denen Dylan sich an die Subströme der großen amerikanischen Erfolgsstory ankoppelt. Daß diese Ströme Blues heißen, für Dylan immer schon Blues hießen, daß sie Bestandteil eines Never Ending Text sind, erzählt dieser Artikel. Was er auch noch einmal erzählt: daß diese Ströme aus Afrika stammen und eher kollektiven Ursprungs sind. Remember D.H. Lawrence: „Never trust the artist, trust the tale“.
Michael Gray hat für die englischen Zeitungen „The Independent“, „Guardian“ und „European“ geschrieben, war A&R-Manager für (u.a.) The Buzzcocks und lebt zur Zeit als freier (Reise-)Schriftsteller in der Nähe von Pikkering, North Yorkshire. Wir entnehmen den Text (in gekürzter Fassung) mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Herausgeber dem Band „Bob Dylan. 50 Jahre ...“, der dieser Tage im Germinal Verlag erscheint. tg
Als der 23jährige Dylan in „Memphis Blues Again“ von „the ladies“ sprach („And the ladies treat me kindly / And furnish me with tape“), erschien das damals als typisch Dylanscher Sprachduktus – niemand unter 50 hätte je so einen Ausdruck gebraucht, und in England hätte man allenfalls dabei an das überkandidelte Gehabe während einer Landpfarrer-Teeparty gedacht.
Früher habe auch ich solche Wendungen für typisch Dylansche Sprachschöpfungen gehalten, oder zumindest für seine eigene surrealistische Fortentwicklung einer Art Insidersprache. Sie kamen mir vor wie Dylan in seinem ureigensten Element: rein mit der Droge – raus mit der Wahrheit.
Ich wußte damals noch nicht, daß er den Ausdruck aus dem Blues entlehnt hatte. Er kommt in Liedern von Blind Lemon Jefferson, Washboard Sam und Mississippi John Hurt vor: „I'm always around the ladies“, singt Jefferson; „Now ask the ladies in your neighborhoud“, singt Washboard Sam, und Hurt singt eine Zeile, die man sich auch von Dylan gesungen vorstellen kann, etwa am Anfang einer nicht veröffentlichten Strophe von „Pledging My Time“: „It just gets better, so the ladies say“.
Dylan selbst äußerte sich 1985 zu der entscheidenden Bedeutung alter Blues-Couplets. „Besser kann man die Dinge wirklich nicht ausdrücken. Man kann es anders sagen, man kann es mit mehr Worten sagen, aber man kann damit nichts Besseres sagen.“ Seit den Achtzigern steht nun diesbezüglich auch ein wichtiges Buch zur Verfügung: Michael Tafts „Blues Lyric Poetry: A Concordance“. Dieses Buch liefert genug Daten, um aufzuzeigen, wie gründlich Dylan die Blueslyrik absorbiert hat, wie sehr er deren poetische Kraft versteht und seine eigenen Arbeiten so zu einem „Glied in der Kette“ (des Blues) werden läßt. Denn eine wichtige Leistung dieser Konkordanz ist, daß sie Wörter und Wendungen, die in verschiedenen Songs von verschiedenen Künstlern vorkommen, nebeneinander auflistet. Dies verdeutlicht (und zwar in einer Weise, die ansonsten nur eine enzyklopädische Plattensammlung oder ein pathologisch exakt funktionierendes Gedächtnis ermöglichen könnten), welche Wendungen und Formulierungen den gemeinsamen Grundstock des Genres bilden und wo individuelle Schöpfungen und Verwendungen vorliegen.
Von zu Hause weggehen
Ein Beispiel: Der Rock-Journalist Clinton Heylin schreibt, der Song „I Was Young When I Left Home“ (zu hören auf dem „Minnesota Hotel Tape“ vom Dezember 1961) enthalte, obwohl er in Teilen der Melodie und des Textes auf das traditionelle „900 Miles“ zurückgehe, „im Text einige sehr dylanesk anmutende Aspekte“. Er zitiert folgende Zeilen: „Used to tell my ma sometimes / When I'd see them ridin' blinds / Gonna make me a home out in the wind.“ Dann macht er jedoch einen Rückzieher, indem er anmerkt, daß „sogar hier die zweite Zeile auf Robert Johnsons ,Walking Blues‘ verweist: ,Leavin' this morning, I have to ride the blinds‘.“
Die „dylanesken“ Zeilen sind gut gewählt, aber Heylins Schlußfolgerungen führen in die Irre. Zunächst ist die Anfangszeile, obwohl sie gar nicht aus irgendwelchem konkreten Liedgut abgeleitet ist, die am wenigsten individuelle der drei. Außerdem: Johnsons Song enthält zwar die Wendung „ride the blinds“, aber diese enthalten auch sehr viele andere Bluessongs, die wie der von Johnson zwischen 1924 und 1940 aufgenommen wurden und die später auf den Samplern wiederveröffentlicht wurden, die wesentlich bestimmten, welche der Vorkriegsbluessänger in der Enthusiasten- und Revivalszene bekannt wurden, in der Dylan sich bewegte, als er jung war und sein Zuhause verließ.
Wenn man weiß, wie allgemein verbreitet eine Formulierung wie „ride the blinds“ war – Dylan muß sich der Tatsache bewußt gewesen sein –, dann (und nur dann) kann man auch erkennen, daß das, was er aus dieser Formulierung machte, in der Tat den originellsten Teil der schon zitierten dreizeiligen Sequenz ausmacht.
Die „blinds“ waren die Zwischenräume hinter dem Tender und zwischen den Gepäckwagen des Zuges, wo man, wenn man unbemerkt aufspringen konnte, umsonst mitreiste. Die Fahrt war gefährlich, auch wenn man sich dem Schlagstock des Eisenbahners entziehen konnte; ganz besonders unter den Waggons, wo ein einziges Umdrehen praktisch den Tod bedeutete. Das erklärt, warum bei Robert Johnson auf die Zeile „Leaving the morning, I have to ride the blinds“ die Zeile „Babe I been mistreated, baby and I don't mind dying“ folgt.
Der junge Bob Dylan verstand die Bedeutung solcher Zeilen gut, zumal die Themen des Todes und des Reisens diejenigen waren, die ihn am Blues am meisten faszinierten. Und beide Themen kommen in der Formulierung „riding the blinds“ zusammen. Während die Formulierung „riding the blinds“ im Blues häufig anzutreffen ist, kommt aber mit Sicherheit die Wendung „them ridin' blinds“ dort nicht vor. Sie ist eine Erfindung Dylans. Und keineswegs eine unwesentliche. In dieser Wendung kommen die todbringende Verheißung und Verzweiflung derjenigen, die darauf angewiesen waren, in der beschriebenen Art zu reisen, komprimiert zum Ausdruck. Von diesen Leuten als „them ridin' blinds“ zu sprechen, drückt eine böse Ahnung aus. Und insofern, als dies eine neue Formulierung ist und somit ins Auge springt, ermöglicht sie dem jungen Mann das Bekenntnis zum Außenseitertum seiner Generation.
Es alles nach Hause zurückbringen
Daß der alte Blues für seine ganze Karriere bedeutsam war, hat Dylan durch eine Reihe von Signalen angedeutet, denen man nicht immer Aufmerksamkeit geschenkt hat. Zu den frühen, bereits erwähnten Signalen zählt, daß er schon 1959 Leadbelly und Odetta hörte und daß er schon 1960 Bluesnummern sang; im Juni 1961 fühlte er sich auf der Blues-Harmonika sicher genug, um als Session- Player bei Harry Belafontes Aufnahme von „Midnight Special“ mitzuwirken, einem traditionellen Bluessong, der eine Schlüsselnummern in Blind Bob Fullers Repertoire gewesen war; im Januar 1962 schrieb Dylan selbst Bluessongs; im März desselben Jahres besaß er genügend Erfahrung und Begeisterung, um auf Sessions bei Big Joe Williams und Victoria Spivey Mundharmonika zu spielen; und schließlich sollte sein zweites Album ursprünglich „Bob Dylan's Blues“ heißen – und damit auf die Anzahl der Bluesstücke hindeuten, die er während der Sessions für das Album im April, Juli und Oktober bis Dezember 1962 aufgenommen hatte.
Signale gab es jedoch auch noch nach dieser frühen Periode, und es gibt sie noch heute. Der Hüllentext des 1965 erschienenen Albums „Bringing It All Back Home“ erwähnt Sleepy John Estes; auf dem Titelfoto desselben Albums prangt eine Abbildung des Plattencovers des überaus bedeutsamen ersten Reissue-Albums mit Robert Johnson-Aufnahmen, „King Of The Delta Blues Singers“, und für die Aufnahmen zu „Like A Rolling Stone“ etwas später in demselben Jahr, jener Rock-Hymne, die den radikalen Bruch mit dem Drei-Minuten-Standard-Song vollzog, ließ Dylan den Blues-Gitarristen Mike Bloomfield einfliegen.
Schon der Album-Titel „Highway 61 Revisited“ kündigt an, daß wir uns auf sehr langes Wiedersehen einzustellen haben, denn es handelt sich um einen sehr langen Highway mit einer ebenso langen Bluesgeschichte. „That 61 Highway“, wie Will Batts es ausdrückte, „longest road I ever knowed“; und wie Charlie Pickett sang: „Now the 61 Highway, she only runs right by my door“. Das sind nur zwei Beispiele für die bis zum Überdruß erfolgte Zelebrierung dieser bluesgetränkten Straße, die deren doppelte Bedeutung für einen Bob Dylan besingen, lange bevor ein Robert Zimmerman merkte, daß diese Straße ja gleich hinter seinem Haus in Duluth, Minnesota, vorbeiführte. Je weiter er dieser Straße folgte, desto weiter führte sie in die Welt des Blues (dort, wo der Highway 61 an Duluth vorbeiführt, kommt er von der kanadischen Grenze und geht weiter nach St. Paul durch Red Wing auf der zu Minnesota gehörigen Seite des Mississippi, auf dessen westlicher Seite Wisconsin liegt. Weiter führt er durch Iowa, bis nahe Keokuk in Missouri. Weiter südlich, immer parallel zum Mississippi, tangiert er St. Louis und dann, nachdem er die süd-östliche Spitze Missouris berührt hat, wo diese an Kentucky und Tennesee stößt, taucht er in den nordöstlichen Zipfel von Arkansas ein und verläuft weiter nach Süden, bis er im südwestlichen Zipfel Tennessees auf die Stadt der Mythen trifft: Memphis, wozu er schließlich den Mississippi überqueren muß. In Memphis stößt er fast auf seinen Bruder, den Highway 51, der die Beale Street kreuzt und an dem unter der Nummer
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3764 in Süd-Memphis Graceland liegt ...).
Auch während der Hochphase von Dylans Hip-Periode Mitte der sechziger Jahre, als seine schöpferische Kraft eine Symbiose mit den Zeitströmungen einging, blieb er im Blues verwurzelt. Er verwendete weiterhin die Bezeichnung „Blues“ in seinen Songtiteln (wie auch die Bezeichnung „Ballad“) zu einer Zeit, als niemand sonst in der Rockmusik dies tat: Tatsächlich dachten die meisten Leute damals, es handele sich um einen bewußt ironischen Gebrauch eines antiquierten Begriffs. Sogar seine ständige Verwendung des Wortes „Mama“ in den Liedern dieser Periode ist aus dem Blues importiert – im Rock verwendeten es wenige, und im Folksong hatte es die engere Bedeutung von „Mutter“. Aber im Blues, in dem es an eine Geliebte oder Angebetete gerichtet ist, taucht es häufiger auf als selbst Wörter wie „if“ und „when“. 1966 eröffnete Dylan die elektrische zweite Hälfte jedes seiner Konzerte mit dem bluesigen, verrückten Rocksong „Tell Me Mama“. Der Titel ist der eines Songs, den Robert Johnson zwar geschrieben, aber nie aufgenommen hat.
Ähnlich nannte Dylan seinen eigenen Musikverlag „Special Rider Music“, womit er ein weiteres Stück alter Country-Blues-Idiomatik entlieh. Überlicherweise trägt „Special Rider“ die Bedeutung von „Liebhaber Nr. 1“; es ist bezeichnend, daß Dylan diese Bezeichnung für seine Muse wählt: einen Begriff, der die Vorstellung von Leidenschaft und Sexualität erweckt und zugleich auf eine magische Reise hindeutet. Dylan findet dies angemessener als die blutleere, preziöse Art, mit der in der etablierten Kultur des Westens gemeinhin die Muse bezeichnet wird.
„Rider“ selbst ist eines der 250 häufigsten Wörter der Taft-Konkordanz, so häufig benutzt, daß es in der Auflistung noch vor Wörtern wie feet, mother, help, stands, might, things, thinking, play, jail, thought und sleep rangiert. „Special Rider“ dagegen ist etwas Besonderes: Es scheint nur in drei Vorkriegsliedern vorzukommen und implizit in einem vierten, obwohl es vielleicht in einigen nicht auf Platte aufgenommenen Liedern vorkam und im Nachkriegsblues geläufiger sein mag.
Als Dylan schließlich 1985 seine erste retrospektive Sammlung als 5-LP-Box herausbrachte, benannte er diese nach einem der bedeutendsten Label für Blues-Wiederveröffentlichungen: „Biograph“, einem Label, das sich in den sechziger und siebziger Jahren darauf spezialisiert hatte, Werke von Blind Lemon Jefferson, Ma Rainey, Blind Blake, Skip James, Leroy Carr, Papa Charlie Jackson, Memphis Minnie, Blind Willie McTell und anderen bedeutenden Bluesmusikern herauszubringen. 1977 wurde er vom Playboy gefragt, welche Musik er hörte – mit dem Hintergedanken, ob er wohl zugeben würde, daß er die aktuelle und populäre Musik verfolge: Steely Dan vielleicht, The Jacksons oder Bonnie Tyler. Dylan antwortete: „I listen to Memphis Minnie a lot.“
Wie es in der Entwicklung der Blues-Poesie selbst der Fall ist, stützt sich Dylan in seinen Liedern manchmal auf verbreitete Songstrukturen und manchmal auf eine individuell kreierte Strophe. Ebenso bedient er sich manchmal eines verbreiteten Musters oder eines einzelnen Verses, nur um sie von innen nach außen zu stülpen, sie umzukehren oder etwas Neues aus ihnen zu machen.
Dies ist ein Beispiel für seine bemerkenswert stille Fähigkeit, sich wenig spektakuläre schöpferische Ziele zu setzen und diese auch zu erreichen – eine Seite seines Schaffens, die innerhalb einer Pop- und Medienkultur notwendigerweise übersehen wird, welche nur darauf ausgerichtet ist, dramatische künstlerische Effekte zur Kenntnis zu nehmen und zu feiern. Immer wieder, wenn man in Dylans Arbeiten auf diese Ströme des Bluesbewußtseins stößt, findet man, daß Bluesphrasen, die aus dem Fundus oder von bestimmten Schreibern stammen, in seinen nicht dem Blues zuzurechnenden Stücken wörtlich übernommen wurden, während sie in den Bluesstücken innovativ verfremdet sind. So fließt in Dylans genuin-schöpferisches Werk die Bluespoesie mit ein, während Dylan in jenem kleineren, streng an Bluesstrukturen orientierten Teil seines Werks selber einen kreativen Beitrag zu diesem wichtigen amerikanischen Musikgenre leistet.
Double-E, Double-O
Wer da glaubt, es sei leicht, einen Bluestext zu schreiben – und wer die haikuartige Präzision mit Einfachheit verwechselt –, sollte es einmal selber versuchen. Dabei kann man nachvollziehen, wieviel handwerkliches Geschick und wieviel Gespür dazu gehören, und man kann einen Eindruck von Dylans Leistung gewinnen. Es gibt kaum ein besseres Beispiel als seinen mustergültigen Blues aus dem Jahre 1965: „It Takes A Lot To Laugh, It Takes A Train To Cry“, an dem deutlich wird, wie Dylan sich zwar auf formelhafte Phrasen des Country-Blues stützt, diese aber in das Gewebe seiner eigenen Songs einflicht. Dylan singt:
Don't the moon look good mama, shinin' through the trees?
Don't the brakeman look good, mama, flagging down the /,Double E‘?
Don't the sun look good goin' down over the sea?
Don't my gal look fine when she's comin' after me?“
In der zweiten Zeile klingt unmittelbar ein konkretes Bild aus dem Eisenbahn-Mythos an. Die „Kameraperspektive“, die der Hörer einnimmt, ist die eines Mannes oder einer Frau, die zwischen den Bäumen versteckt den Bremser beobachtet, um den Zeitpunkt abzuwarten, an dem der Zug seine Fahrt verlangsamt, um dann unbemerkt aufspringen zu können. Auch die Sprache entspricht dem Bluesmilieu, denn die fallende Kadenz drückt aus, wie der Zug auf das Flaggensignal hin die Fahrt verlangsamt. Und dennoch ist diese Zeile, wie ihre drei Hauptzutaten beweisen, „Dylan pur“: Erstens kommt der Bremser im Vorkriegsblues immer nur im Bericht über Gespräche vor („I asked the brakeman, please let me ride your blinds“), nicht jedoch als visuelles Bild. „Don't the brakeman look good“ gibt es im Blues jedenfalls nirgends. Indem Dylan diese Bemerkung jedoch in der Art eines Advocatus Diaboli einschleust und damit die Logik der wiederkehrenden Formel, die er verwendet, in Frage stellt, erhält sie einen Humor und eine menschliche Note, die die bestehende Formel weniger zerstört als vielmehr ihre Grenzen erweitert. Zweitens läßt sich in Dylans Zeile kaum Idiomatik nachweisen: Während „flag(ged) a/my train“ im Blues verbreitet ist, existiert dort kein „flag/flagged/flagging down“. Und drittens tauchen „Double E“, „Double O“ und ähnliches zwar häufig im Blues auf, aber immer in einer gänzlich anderen Bedeutung, so wie in der Formel: „Tennessee ... double S, double E“. Deshalb ist diese Zeile neu und Dylans eigene. Die übrigen sind alt und Gemeinbesitz. Es liegt im Wesen des Blues, daß er Gemeinschaftsgut ist, daß er unabgeschlossen und enorm vielschichtig ist – genau das, worauf Michael Taft im Vorwort zu seiner Konkordanz so großen Wert legt.
Die Auferstehung des Mundes
Als erstes erläutert er dort die besonderen Probleme, die bei der Erstellung einer Folklore-Konkordanz im Gegensatz zu einer Literatur-Konkordanz entstehen, nämlich daß man es eben mit einem unabgeschlossenen und mehr oder minder unbestimmten statt mit einem klar abgrenzbaren Textkorpus zu tun hat. Er geht darauf ziemlich ausführlich ein, so daß einem als Dylan-Forscher beim Lesen die grundsätzliche Kluft zwichen schriftlicher und mündlicher Kultur und Bob Dylans Rolle dabei klar wird, nämlich die Rolle desjenigen, der eine Brücke schlägt zwischen der mündlichen, folkloristischen Kultur der Ballade und des Blues und der Schriftkultur – und die Rolle eines Künstlers, der mit seiner eigenen, einzigartigen Mischung dieser Elemente in die neue mündliche Kultur (die nichtlineare, postmoderne Kultur) des Marshall McLuhanschen Weltdorfes vorstößt: anders gesagt, Bob Dylans Rolle als ein Künstler, der, fast zeitgleich mit dem Griff zur elektrischen Gitarre, den Untergang des Auges (Buch) und die Wiederauferstehung des Mundes (Geräusch) proklamiert.
An dieser Stelle, da wir uns im Schnittpunkt befinden zwischen Themen der zeitgenössischen Folklore-Forschung und Fragen, die durch ein Buch (beziehungsweise, etwas flexibler, eine Computer-Datei) über traditionelles Liedgut aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg aufgeworfen werden: Was kommt da anderes auf uns zu als die postmodernen Fragestellungen (samt der einschlägigen Sprache des Poststrukturalismus). Denn das, was Neil Corcoran über Dylans „Tangled Up In Blue“ geschrieben hat, das gilt für die gesamte Kultur des alten Blues: „Er verweigert sich dem Trost des Fertigen zugunsten einer Poetik des Prozessualen, des ständigen Sicherneuerns, des öffentlichen Aufführens statt des Veröffentlichens.“
Michael Taft rückt diese poststrukturalistischen Fragestellungen noch schärfer in den Blick, wenn er im weiteren den vorrangigen Gesichtspunkt der Struktur des Blues-Textes und der kulturellen Funktionalität des Blues als (mündliche) Gattung betont: „mir wurde klar, daß die Blues-Sänger beim Aufbau ihrer Liedtexte eine Art phraseologischer Struktur zugrunde legten ... in gewisser Weise ähnlich denen jener epischen Rhapsoden, die diesen afroamerikanischen Künstlern zeitlich und räumlich ja so weit entrückt sind ... es liegt in der phraseologischen Natur des Blues ..., daß dann, wenn eine bestimmte Stelle oder Zeile gesungen wird, sowohl der Sänger als auch das Publikum erkennen, um welche Stelle es sich handelt. Sie vergleichen, vielleicht halb unbewußt, diese eine Interpretion der Stelle mit anderen Interpretationen dieser oder ähnlicher Stellen... So hat jede Wendung im Blues ein Bedeutungspotential, das die aktualisierte Bedeutung im jeweiligen Stück weit übersteigt.“ Taft schreibt weiter: „Wollte man anschaulich zeigen, wie das Publikum diesen ,Schock des Wiedererkennens‘ erfährt, also welche geistigen Vorgänge diesen ,Schock‘ im Zuhörer auslösen, hieße das bereits, eine Art Konkordanz zu erstellen. Jedes Wort und jede Wendung würden im Kontrast mit allen anderen, ähnlichen Wörtern und Wendungen in allen anderen Kontexten aufgelistet werden. Indem der Blick über eine Seite der Konkordanz gleitet ... erfaßt er in einem kurzen Zeitraum, was im Moment des ,Schocks‘ im Zuhörer abläuft. Sänger wie Publikum nehmen während des Vortrags eine Umordnung und Dekonstruktion des Textes vor; darin bestehen überhaupt der ästhetische Genuß und die Verständnisgrundlage des Blues ... Die Computer-Konkordanz ist nichts anderes als die konkrete Manifestation dieses intuitiven Prozesses.“
Genial! Und wie gut das alles zu Bob Dylan paßt – einschließlich der Beschreibung der Arbeitsweise des Blueskünstlers: „Der schöpferische Bluessänger ist einer, der traditionelle Elemente kreativ handhabt und uns durch Neuordnung wohlbekannter Elemente mit Vertrautem schockiert. Er macht uns das Alte wieder neu bedeutsam.“
So geben uns diese „traditionellen“ Lieder also auch Hinweise auf Sichtweisen und Gedankenstrukturen der vormodernen Welt, in der sie aufgezeichnet wurden. Und sie belegen, daß es auch damals schon Menschen gab, die um die verschlungenen Wege unseres Gedächtnisses, um die nichtsequentielle Natur des Grübelns und des Nachsinnens und um die unergründlichen Wendungen des Schicksals wußten.
Arbeitsrat für Kultur e.V. (Hrsg.): „Bob Dylan. 50 Jahre...“, mit Beiträgen von Michael Gray, Rüdiger Dannemann, Richard Nate u.a., Germinal Verlag 1994, 255 Seiten, 30 DM
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