Brüssel: Nato goes out of area

Hinter der Scheindebatte um die Osterweiterung vollzieht das Bündnis endgültig den Schritt vom Verteidigungsbündnis zur weltweit einsatzfähigen Militärallianz  ■ Aus Brüssel Andreas Zumach

Die im Vorfeld des heute in Brüssel beginnenden Nato-Gipfels geführte Kontroverse um die Osterweiterung der Allianz war im wesentlichen eine Scheindebatte. Das bestätigt der vertrauliche Entwurf für das Schlußkommuniqué des Gipfels, der noch alternative Formulierungsvorschläge zum Thema Osterweiterung enthält. Abgelenkt wurde mit der Scheinkontroverse von den entscheidenden Weichenstellungen für die Zukunft der Allianz, die die 16 Regierungschefs bis morgen nachmittag treffen wollen.

Ohne entsprechende Diskussion oder gar Beschlußfassung in den Parlamenten der Mitgliedsstaaten werden die Regierungschefs das vom Nato-Militärausschuß erarbeitete Dokument MC 327 absegnen. Darin wird der vor 44 Jahren im Washingtoner Gründungsvertrag niedergelegte ausschließliche Auftrag des Bündnisses – die Verteidigung des Nato- Gebietes – auf weltweite militärische Einsätze ausgedehnt. Das Dokument, das der taz vorliegt, sollte trotz zahlreicher Transparenzversprechen der Nato seit dem Fall der Berliner Mauer geheim bleiben.

Zugleich wird die Nato in der belgischen Hauptstadt eine Neudefinition internationaler Militäreinsätze vorschlagen, die bislang gültige Unterscheidungen zwischen „friedenerhaltenden“ oder „friedenschaffenden“ Maßnahmen verwischt. Diese Neudefinition soll auch der UNO angedient werden, der dabei nun die Rolle des bei Bedarf aktivierbaren, im Kooperationsfall aber völlig abhängigen Juniorpartners zugedacht wird.

MC 327 ist der Schlußpunkt einer seit 1990 weitgehend bündnis- intern geführten Diskussion. Bereits mit dem auf dem Gipfel in Rom im November 1991 verabschiedeten Dokument MC 400 wurde der ursprüngliche reine Verteidigungsauftrag der Allianz um Aufgaben des Krisenmanagements und militärische Operationen außerhalb der Nato-Region erweitert. Aber erst mit MC 327, das im August letzten Jahres vom Militärausschuß fertiggestellt und Anfang Dezember vom Nato-Rat gebilligt wurde, erhalten die in den letzten zwei Jahren aufgestellten schnellen Reaktions- und Eingreiftruppen die Autorisierung für militärische Operationen außerhalb des Vertragsgebietes, also weltweit. Im für die Öffentlichkeit bestimmten Schlußkommuniqué ist lediglich in allgemeiner Form die Rede von „Missionen zusätzlich zur traditionellen Aufgabe der kollektiven Verteidigung“.

Die künftigen Aufträge der schnellen Eingreifverbände sind keinesfalls nur auf klassische Blauhelmeinsätze beschränkt. Da heißt es im genannten Dokument MC 327, es sei „schwer, eine klare Grenze zwischen Friedenserhaltung (peace-keeping) im traditionellen Sinn und Friedensschaffung (peace-making), Friedenserzwingung (peace-enforcement) oder anderen Maßnahmen zur Verteidigung oder Wiederherstellung des Friedens“ zu ziehen. Daher definiert die Nato ihre Aufgabe künftig unter dem kollektiven Oberbegriff „Friedensunterstützung“ (peace support), unter dem alle obigen Maßnahmen sowie Aktionen zur „Konfliktverhütung“ und zur „humanitären Hilfe“ subsumiert werden.

Die Unterordnung künftiger Militäreinsätze der Nato unter Auftrag und Kommando von UNO oder KSZE oder auch nur die Ausrichtung an deren Richtlinien ist nicht vorgesehen. „Operationen zur Friedensunterstützung sollen in Anlehnung an existierende UNO- und KZSZE-Regeln stattfinden“, steht lediglich unverbindlich im MC 327. Damit halten sich die Nato-Staaten für künftige Konfliktfälle entsprechend ihrer jeweiligen Interessenlage sämtliche Optionen offen: den militärischen Eingriff auf eigene Faust unter Legitimierung (wie im Golfkrieg) oder klarem Auftrag (bislang nicht vorgekommen) der UNO oder aber die lediglich symbolische Erfüllung von Beschlüssen (Flugverbot, Blockadedurchsetzung in Ex-Jugoslawien). Selbst im Fall einer Erfüllung von Aufträgen der UNO oder KSZE ist das Bündnis jedoch nicht bereit, militärische oder zivile Geheimdiensterkenntnisse an diese Institutionen weiterzugeben.

„Normalerweise erhält die Nato ihre gesamten Aufklärungserkenntnisse von ihren Mitgliedsstaaten zum Zweck der Verwendung ausschließlich in der Allianz“, heißt es im MC 327. Diese Erkenntnisse könnten „weder an Nichtmitglieder noch an irgendeine internationale Organisation weitergegeben werden“. Dieses „Prinzip“ müsse „unter allen Umständen aufrechterhalten werden, unabhängig von Erfordernissen künftiger Operationen zur Friedensunterstützung“. Im Klartext: Die Nato behält wesentliche Erkenntnisse für die politische Beurteilung eines Konflikts und für den Einsatz militärischer Mittel für sich und damit – selbst wenn sie formal in Erfüllung eines UNO/KSZE- Auftrages handelt – auch die Kontrolle und Befehlsgewalt über den jeweiligen Einsatz.