„Der Fall Theissen ist ein Politikum“

Im zweiten Prozeß gegen den Memminger Frauenarzt Theissen forderten die Anwälte gestern die Einstellung des Verfahrens / Staatsanwaltschaft plädiert auf Bewährung  ■ Aus Augsburg Klaus Wittmann

Die Neuauflage des Prozesses gegen den Frauenarzt Horst Theissen vor der achten Strafkammer des Landgerichts Augsburg begann vielversprechend. Mit zwei ausführlich begründeten Anträgen veranlaßten die Verteidiger das Gericht zu einer unerwartet langen Beratung. Sollte tatsächlich dieser seit Jahren erwartete Prozeß kurz nach seinem Beginn eingestellt werden? Die Anwälte von Horst Theissen hatten dies gefordert. Zumindest aber sollte bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über eine Beschwerde Theissens wegen der Beschlagnahme der Patientinnenkartei der Prozeß ausgesetzt werden. Diese Beschlagnahme, die schließlich zu den Memminger „Hexenprozessen“ geführt hatte, hält der einstige Memminger Frauenarzt nach wie vor für verfassungswidrig. Scharf kritisierte Theissen auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Abtreibungsrecht hinsichtlich der strengen Beratungspflicht. „Wird es demnächst ein zweites Memmingen nach dem Motto geben: War die Beratung richtig oder nicht?“, fragte er.

Außerdem erklärte Theissen vor den Augsburger Richtern, daß er bei den Abtreibungen von seinem ärztlichen Selbstverständnis ausgegangen sei. Er habe Frauen geholfen, eigenständig zu entscheiden. Eine ganze Reihe von Frauen habe er dabei von einem Schwangerschaftsabbruch abhalten können. Durch den Memminger Prozeß sei er inzwischen hoch verschuldet.

Unabhängig von der noch anhängigen Verfassungsbeschwerde sei die lange Dauer des Verfahrens für Theissen nicht mehr zumutbar, argumentierten gestern dessen Anwälte. Theissen war am 4. September 1984 verhaftet worden und verbrachte sechs Wochen in U- Haft. 1988 begann der neunmonatige Memminger Prozeß, der im Mai 1989 mit einer Verurteilung zu zweieinhalb Jahren Haft und einem dreijährigen Berufsverbot endete. Die Memminger Richter hatten damals allerdings übersehen, daß 20 Fälle bereits verjährt waren. Deshalb muß das Strafmaß jetzt neu festgesetzt werden.

Selbst wenn in Augsburg ein milderes Urteil aufgrund der neuen Rechtsprechung gefällt wird, es aber grundsätzlich bei der Verurteilung bliebe, werde Theissen erneut in Revision beim BGH gehen, kündigten seine Verteidiger an. Schließlich hätten sich durch die Übergangsregelung zum Paragraph 218 auf Basis des Verfassungsgerichtsurteils die Rechtsgrundlagen so erheblich geändert, daß eine Verurteilung von Horst Theissen nicht mehr zu rechtfertigen sei. Theissen sei ein juristischer Altfall, der inzwischen völlig neu zu bewerten wäre, sagte Rechtsanwalt Jürgen Fischer und ergänzte: „Die Behandlung des Falles Theissen sehen wir als Politikum an.“ Es gehe um weit mehr als die Person Theissen. Aus all diesen Gründen sei das Verfahren einzustellen, zumindest aber bis zu einer endgültigen neuen Rechtsprechung sowie einer Entscheidung des Verfassungsgerichts auszusetzen.

Nach über zweistündiger Beratung verkündete das Gericht gestern mittag dann, daß zunächst die Urteile des Landgerichts Memmingen und des Bundesgerichtshofs verlesen werden und erst dann über die Anträge der Verteidigung entschieden wird. Damit, so der Vorsitzende Richter, sollte den beiden ehrenamtlichen Richtern die für die Entscheidung notwendige Grundlage gegeben werden. Den Nachmittag über trugen die drei hauptamtlichen Richter der achten Strafkammer abwechselnd die einzelnen Fälle, die zu Theissens Verurteilung geführt hatten, vor, und zwar in anonymisierter Fassung, um die betroffenen Frauen zu schützen.

Immer wieder wurde bei diesem Vortrag deutlich, in welcher Notlage Frauen in die Praxis von Dr. Theissen kamen. Für viele war er die letzte Hilfe in auswegloser Lage. Die betroffenen Frauen selbst wollen von dem ganzen Verfahren nichts mehr wissen.

Auch zum Frauenzentrum Memmingen haben viele inzwischen den Kontakt abgebrochen. „Die sind froh, daß für sie das alles vorbei ist und wollen nur noch ihre Ruhe“, sagt Berti Huber von der 218-Gruppe. Bei vereinzelten Anfragen sei freilich noch immer die Verunsicherung herauszuhören, daß möglicherweise doch noch einmal die peinlichen Verhöre von vorne beginnen könnten.

Horst Theissen selbst machte einen äußerst gefaßten Eindruck. Seine Allgemeinpraxis, die er zwischenzeitlich im hessischen Bensheim betreibt, läuft gut, berichtete er. Gleiches gelte für von ihm vertriebene Naturheilmittel.

Am späten Nachmittag fordert die Staatsanwaltschaft in ihrem Plädoyer eineinhalb Jahre auf Bewährung. Damit blieb sie deutlich unter dem Urteil des Memminger Landgerichts von 1989.