piwik no script img

Zwei Schritte vor, einer zurück in Richtung Marktwirtschaft

■ Die Richtung der russischen Politik ist klar, aber der Transformationsprozeß hat kein gleichmäßiges Tempo

Ist Rußland eine Demokratie? Ist Rußland eine Marktwirtschaft? Nein! ruft lauft der Chor im Westen. Ja, sagen viele Russen eher leise und schauen hilflos, aber was hat uns das gebracht?

Es ist wie bei dem Streit darum, ob das Glas halb voll oder halb leer sei. US-Amerikaner und Westeuropäer vergleichen „den Stand der Reformen“ mit der Situation in ihren eigenen Ländern. Im Vergleich sind die Russen arm. Und überall im Land fehlen jene legalen Institutionen, die der investitionsbereite Kapitalist als Sicherheitsnetz von zu Hause gewöhnt ist. Zu diesem Netz gehört auch eine berechenbare Politik. Den Russen wiederum bleibt nur der Vergleich mit jenem Früher, zu dem die Mehrheit nicht zurück will, und ihrem Bild vom Westen, hinter dem die Realitität logischerweise zurückbleibt.

Nach den offiziellen Statistiken befindet sich Rußlands Volkswirtschaft in tiefer Depression: 1993 ging das Bruttosozialprodukt zurück, um 12 Prozent gegenüber dem Vorjahr, über das wiederum ein Einbruch um 18 Prozent der Wirtschaftsleistungen verzeichnet ist. 1993 betrug die Jahresinflationsrate 860 Prozent. Gegenüber dem Dollar verlor der Rubel 66 Prozent seines Wertes. Für 1994 ist wirtschaftspolitisch noch alles offen. Nicht einmal einen Regierungsentwurf für den Staatshaushalt 1994 brachte die Jelzin- Truppe zustande. Bei diesen Rahmenbedingungen, höhnt der Chor des Westens, kann es ja nichts werden mit dem Wirtschaftswunder.

Den Blick fest auf das Wunschziel geheftet, übersehen Politiker von Kohl bis Clinton heute gerne, in welchem Zustand Jelzin die Volkswirtschaft von Gorbatschow übernehmen mußte: als Scherbenhaufen. Als Jegor Gaidar als Premierminister vor zwei Jahren mit der Preisfreigabe die Schocktherapie auslöste, waren die planwirtschaftlichen Strukturen bereits zusammengebrochen, die Läden endgültig leer. Die städtische Bevölkerung, 80 Prozent der Russen, verschwendete einen Großteil ihrer Lebenszeit bei der Suche nach Lebensmitteln. Heute sind die Russen ein Volk von Eigentümern, die Wohnungen, in denen sie leben, gehören ihnen. Den Bauern wird in Kürze das Land, das sie bestellen, übereignet. Nur zehn Prozent verscherbelten ihren Voucher, 90 Prozent der Russen aber nutzten den Privatisierungsgutschein seiner Bestimmung gemäß zum Erwerb von Unternehmens- Aktien. Die „kleine Privatisierung“ von Geschäften, Restaurants und Hotels ist fast abgeschlossen, die Industrie soll ebenfalls bis Mitte 94 privatisiert sein.

In diesem Prozeß spielten die US-Amerikaner eine entscheidende Rolle, auch wenn sie längst nicht soviel Geld in Rußland ausgaben wie die Deutschen. Finanziert von der US-Regierung entwarf die Weltbanktochter IFC (International Finance Corporation) die Modelle, nach denen seit Herbst 1992 das Volkseigentum ins Eigentum des Volkes überführt wird. Gemeinsam ist den Modellen das Prinzip, daß jeweils die Belegschaft über den Weg der Privatisierung entscheidet und auch die Mehrheit der Aktien (mindestens 50 Prozent plus eine Aktie) bekommt. Die restlichen Unternehmensanteile werden dann in Auktionen gegen Voucher verkauft.

Von den offiziellen Statistiken nicht erfaßt, hat sich 1993 ein boomender privater Handelssektor entwickelt, der darum auch keinen Eingang ins Bruttosozialprodukt findet. Nur so erklärt sich, daß, obwohl die registrierte Wirtschaftsleistung stetig und deutlich zurückgeht, die Mittelschicht trotzdem wächst: Galten Mitte 1992 noch 90 Prozent der Russen als absolut arm, sind dies heute nurmehr 30 Prozent. Wie im Westen ist auch in Rußland das private Auto zum Symbol für den sozialen Aufstieg geworden und beschert den Städten Dauerstaus und schlechte Luft.

Die einst fliegenden Händler betreiben ihren Geschäftsaufbau durchaus systematisch. So haben die Kioskbesitzer, die zunächst in den Bretterbuden des zentralen Zeitungsvertriebs ihr Geschäft begannen, diese inzwischen durch Stahlcontainer mit Schaufenstern ersetzt. Die Obst- und Gemüsemärkte erhalten immer komfortablere Stände. Privatisierte Läden werden zumeist als erstes frisch gestrichen, Regale und Theken nach und nach erneuert. Einen Mangel an Waren gibt es in den Städten nicht mehr, nur sind sie häufig für viele unbezahlbar.

Vor allem leiden die Menschen unter der Inflation, auch wenn deren Monatsrate 1993 von über 30 Prozent im Februar auf zwölf Prozent im Dezember sank. Der britische Economist macht für die stetige Geldentwertung Viktor Geraschenko verantwortlich, den „schlimmsten Zentralbanker der Welt“. Geraschenko bedient, häufig an der Regierung vorbei oder auch offen gegen sie, die Notenpresse, um den Industriekombinaten immer neue Subventionskredite zukommen zu lassen.

Allerdings machen es sich West- Experten reichlich einfach, wenn sie schlicht fordern, der Industrie sämtliche Kredite zu streichen. Im sowjetischen System war nun einmal das ganze Leben um die Kombinate und Kolchosen herum organisiert. Kliniken, Kindergärten, Kulturpaläste, Schulen und Altersheime gehörten als „soziale Sphäre“ zum Betrieb dazu. Diese Einrichtungen müßten nun vom Staat übernommen werden. Gerade in der Anfangsphase, bevor ein wie auch immer geartetes Beitragssystem aufgebaut ist, wird auch den Hardcore-Monetaristen in der Regierung nichts anderes übrig bleiben, als Renten, medizinische Grundversorgung, Lehrergehälter etc. aus dem Staatshaushalt zu bezahlen.

Die Privatisierung der Wirtschaft allein änderte außerdem nichts an den Monopolstrukturen. Die Preise auf Märkten und in den Geschäften sind auch deshalb in schwindelnde Höhen gestiegen, weil der zentralisierte Großhandel sie diktieren kann. Zusätzlich erschweren die Monopole, einzelne veraltete Betriebe in Konkurs gehen zu lassen: Sie sind häufig die einzigen Zulieferer oder Kunden anderer Unternehmen und würden diese in einer Kettenreaktion mit in die Pleite ziehen.

Zu den großen Ausreden westlicher Politiker gehört vor allem die, daß der Westen ja gar nichts tun könne, solange die Richtung der Reformen nicht klar sei. Die Richtung der russischen Politik aber ist seit zwei Jahren klar auf Marktwirtschaft ausgerichtet. Der Transformationsprozeß hat allerdings kein gleichmäßiges Tempo. Er vollzieht sich in Schüben nach dem Motto „zwei Schritte vor, einer zurück“. Seit den Wahlen bremst der Schirinowski-Effekt das Reformtempo.

Zögern aber ist kein russisches Politikphänomen. Auf ihrem Gipfel im Juli in Tokio kündigten die Regierungschefs der G7-Länder (USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kanada) an, in Moskau ein Koordinationsbüro für die Rußlandhilfe zu eröffnen. Das Büro gibt es nicht – und noch immer wissen die Amerikaner, die in Moskau für die Weltbanktochter IFC oder die Osteuropabank EBRD arbeiten, kaum, was ihre Kollegen aus der Europäischen Union tun oder die deutschen Rußlandhelfer vorhaben.

Vollmundig warb Clinton in Tokio dafür, daß an ausgesuchten Orten „Post-Privatisierungszentren“ eingerichtet werden, in denen sich russische Manager umfassend beraten lassen können. Nun warten alle multinationalen Organisationen darauf, daß Clinton das Startsignal für die Finanzierung dieses Programms gibt. Vermutlich wird, ohne daß es irgendein US- Bürger merkt, die EU aus ihrem Hilfsprogramm Tacis – aus dem für Rußland jährlich 500 Millionen Mark zur Verfügung stehen – derartige Zentren einrichten.

Nach seinem Amtsantritt kam es Clinton offenbar in erster Linie darauf an, seine eigenen Leute auch in Rußland zum Zuge kommen zu lassen. Er schickte kürzlich neue Entwicklungshelfer von US- Aid nach Moskau – und strich gleichzeitig das Geld für die IFC, deren Personal sich nach zwei Jahren kontinuierlicher Beratungsarbeit im Land bestens auskennt. Donata Riedel

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen