: Das Mißverständnis vom 3. November 1992
Die Werte, für die Clinton steht, finden in der US-amerikanischen Gesellschaft keine Mehrheit ■ Aus Washington Andrea Böhm
Das einjährige Dienstjubiläum haben sich Bill und Hillary Clinton vermutlich anders vorgestellt. Ein wenig ruhiger, gesetzter, präsidialer – mit Schlagzeilen und Leitartikeln über einen erfolgreich absolvierten Europabesuch, über die bevorstehende Reform des Gesundheitswesens oder die günstigen Wirtschaftsprognosen für 1994. Statt dessen beherrscht ein Skandal die US-Presse. „Whitewatergate“ ist der Titel dieser Affäre – benannt nach einem von den Clintons mitfinanzierten Grundstücksprojekt. Die letzte Silbe wurde von den Medien angehängt, die seit Jahren die schlechte Angewohnheit pflegen, jeden Skandal, jede Affäre und jede Ungereimtheit auf diese Weise mit dem „Watergate“-Skandal der Nixon-Administration zu assoziieren und diesen damit zu nivellieren. Im Fall „Whitewater“ steht noch nicht einmal fest, ob überhaupt ein „Skandal“ vorliegt. Möglicherweise haben Hillary und Bill Clinton nie gegen irgendwelche Regeln oder Gesetze verstoßen. Möglicherweise ist es wieder einmal das typisch tolpatschige bis geheimniskrämerische Verhalten des Clinton-Stabes, das über Washington hinaus Staub aufwirbelt und zu Unterstellungen und Spekulationen einlädt.
Fest steht allerdings, daß die Angelegenheit am Image kratzt – dieses Mal nicht nur an dem des Präsidenten, sondern auch an dem der First Lady. Denn in der „Whitewater“-Affäre dreht es sich um alle jene unsauberen Tricks und Verquickungen, die die DurchschnittsbürgerInnen den DurchschnittspolitikerInnen mittlerweile als normales Verhalten unterstellen: Da geht es um Grundstücksinvestitionen der Clintons Ende der siebziger Jahre in Arkansas; fragwürdige Wahlkampfkredite; eine Bank in Arkansas, die erst durch merkwürdiges Geschäftsgebaren, dann durch Bankrott die Aufmerksamkeit der Bundesbehörden auf sich lenkte und deren Anwältin Mitte der achtziger Jahre Hillary Clinton hieß. Es geht um die fließende Grenze zwischen Filz und Freundschaft, Kungelei und Koalitionen im Arkansas der Ära Clinton – und um die Frage, ob die Clintons nicht auch ganz durchschnittliche PolitikerInnen mit einem ganz durchschnittlich unterentwickelten ethischen Bewußtsein sind.
Nun ist Bill Clinton immer mal wieder in den Geruch des Slick Willie, des aalglatten Bill, geraten – sei es in der Frage des Militärdienstes oder bei neuen Spekulationen über außereheliche Affären. Meist war er weniger durch den objektiven Gehalt der Vorwürfe angreifbar geworden als vielmehr durch seine seltsam schuldbewußte, ganz und gar unpräsidiale Art, sich zu verteidigen. Doch dieses Mal könnte der Schaden größer sein, denn nun steht auch das Ansehen Hillary Clintons auf dem Spiel. Jener Frau, die die New York Times noch vor kurzem in einem Porträt als Jeanne d'Arc der amerikanischen Politik verewigt hatte. Jener Frau, die gerade mit der anscheinend unangreifbaren Kombination aus Kompetenz, Charisma und Integrität das größte Reformprojekt der letzten fünfzig Jahre durch den US-Kongreß boxen soll: die Reform des amerikanischen Gesundheitswesens.
Kein Wunder also, daß kurz vor dem ersten Jahrestag der ersten Baby Boomer-Administration die First Lady über die öffentliche Meinung verbittert ist, und der First Husband wütend Interviews abbricht, sobald das Stichwort „Whitewater“ aufkommt.
Dabei lief das erste Jahr so schlecht nicht – auch wenn Bill Clinton oft so Politik macht, wie Boris Becker in besseren Zeiten Tennis spielte: die ersten beiden Sätze verlieren, im dritten 0:5 zurückliegen – und dann doch noch gewinnen. Clinton setzte, wenn auch mit hauchdünner Mehrheit, seinen Haushaltsentwurf durch; er unterzeichnete endlich das Family Leave-Gesetz, das ArbeitnehmerInnen im Krankheitsfall eines Familienmitglieds oder bei der Geburt eines Kindes Urlaub gewährt; er hat seinen National Service-Plan durchgesetzt, wonach StudentInnen ihre College-Gebühren in Zukunft durch gemeinnützige Arbeit zurückerstatten können; er leitete in der Personalpolitik seiner Administration und der Judikative eine multikulturelle Zeitenwende ein, nach der so manche weiße, männliche Karrierebeamte neue Zukunftspläne schmieden müssen; er machte mit einem Federstrich mehrere restriktive Erlasse gegen das Recht auf Abtreibung rückgängig; unter anderem auf seinen Druck hin wurde im Kongreß die Brady bill verabschiedet, ein wenn auch eher symbolisches Gesetz zur Kontrolle von Waffenbesitz; und Ende letzten Jahres rettete er mit einem persönlichen Lobby-Kraftakt im Kongreß die Ratifizierung des Freihandelsabkommens Nafta, die andere schon abgeschrieben hatten.
Clintons Energieministerin Hazel O'Leary hat die Aufarbeitung eines der dunkelsten Kapitel des kalten Kriegs – Experimente mit Plutonium an Menschen – in Gang gesetzt. Clintons Städtebauminister Henry Cisneros hat das Problem der Obdachlosigkeit zu seiner politischen Priorität gemacht. Und mit Janet Reno ist erstmals eine Frau Justizministerin geworden, deren unkonventionelles Denken der populistischen und populären Law-and-order-Mentalität oft diametral entgegengesetzt ist.
Zudem gab Clinton eine überraschend gute Figur bei seinen bisherigen Auslandsreisen ab, setzte beim Nato-Gipfel in Brüssel und später in Prag und Moskau sein Partnership for Peace-Projekt durch, und konnte sogar noch den Vollzug eines seiner Wunschziele vermelden: die Ukraine gibt ihre Nuklearwaffen auf. Stellt man diese Liste den zwölf vorangegangenen Jahren republikanischer Administrationen gegenüber, dann steckte das Jahr 1993 voller kleinerer und größerer Wunder. Legt man die Erwartungen und Projektionen zugrunde, die Clinton selbst formuliert und skizziert hat, dann war es eine Enttäuschung. Die wiederum hat nicht nur mit der Person des Präsidenten zu tun, sondern mit einem Mißverständnis, das am 3. November 1992 entstand.
Clintons größter Erfolg, schreibt der Historiker Gary Wills in der New York Times, „war sein Wahlsieg“, der eine Periode des Antagonismus zwischen Gesellschaft und dem höchsten und symbolisch bedeutsamsten Amt der Exekutive beendete. Seit Ende der sechziger Jahre hatten soziale Bewegungen, allen voran das women's movement, die StudentInnenbewegung und später die Schwulen- und Lesbengruppen, das Selbstverständnis der Gesellschaft grundlegend verändert, während gleichzeitig, mit Ausnahme der Carter-Administration, immer wieder Republikaner ins Weiße Haus gewählt wurden, die schworen, diesen Entwicklungen Einhalt zu gebieten.
Doch der Wahlsieg der Clintons täuschte über eines hinweg – im von HoffnungsträgerInnen entvölkerten Westeuropa vielleicht noch mehr als in den USA: Die Wahl eines Baby Boomers, der gegen den Vietnamkrieg protestierte, mit Hillary verheiratet ist, Schwule und Lesben in seine Administration beruft, Frauenrechte respektiert, Saxophon spielt und zumindest die Vision einer sozial gerechteren Gesellschaft mit sich trägt – diese Wahl darf nicht mit einem gesamtgesellschaftlichen Konsens über eben jene Werte verwechselt werden. Die Mehrheit der AmerikanerInnen erwartete den Amtsantritt der Clintons mit Mißtrauen und nicht mit Euphorie.
Kaum vereidigt, wurde Bill Clinton dieser Umstand sehr nachhaltig demonstriert: Als er mit einem Federstrich die fortgesetzte Diskriminierung von Homosexuellen im Militär beenden wollte, schlug ihm in Washington der erbitterte Widerstand von konservativen SenatorInnen aus beiden Parteien, dem Militär sowie christlich-konservativen Gruppen entgegen. Resultat dieses Konflikts: erstens ein Eiertanz der Administration, die am Ende mit einem Kompromiß der allerfaulsten Sorte nachgab, der es schwulen und lesbischen SoldatInnen weiterhin unmöglich macht, mit ihrer Sexualität genauso offen umzugehen wie Heterosexuelle. Zweitens eine ebenso banale wie für Clinton gefährliche Erkenntnis: Der Präsident ist gar nicht so stark.
Das hat zum einen Gründe, die so alt sind wie die US-Verfassung selbst. Das System der checks and balances gewährt dem Präsidenten der USA gegenüber dem Kongreß weit weniger Handlungsspielraum, als dies sein Image vor allem auf der anderen Seite des Atlantiks oft suggeriert.
Das hat zum anderen Gründe, die auf das Wahlergebnis 1992 zurückzuführen sind: Bei aller Euphorie unter Linken und Liberalen – es war kein Erdrutschsieg zu feiern. Clinton hatte 43 Prozent der Stimmen auf sich vereint – bei einer Wahlbeteiligung von kaum über 50 Prozent. Wer so knapp gewinnt, der kann keine gesellschaftliche Mehrheit beanspruchen.
Darüber hinaus muß sich Clinton mit parlamentarischen und außerparlamentarischen Phänomenen herumschlagen, die das Regieren nicht einfacher machen: Das WählerInnenspektrum hat sich in den letzten zwanzig Jahren immer mehr in Zielgruppen mit höchst spezifischen Forderungskatalogen aufgesplittet, was sich unter anderem im völligen Verfall der Fraktionsdisziplin im US-Kongreß widerspiegelt. Da sitzen kaum noch RepräsentantInnen des Volkes, sondern RepräsentantInnen jener Lobbygruppen, die am professionellsten das Büro ihres Senators mit Telefonkampagnen lahmlegen oder für ihre Abgeordneten die größten Wahlkampfspenden aufbringen können. – Da nützt es dann wenig, daß Clintons Demokratische Partei im US-Kongreß die Mehrheit stellt. Die Demokraten, ohnehin eine sehr viel heterogenere Partei als die Republikaner, haben den Wahlsieg vom November 1992 und die ersten zwölf Monate „ihres“ Präsidenten keineswegs als konsensstiftend empfunden. Es waren unter anderem demokratische Senatoren, die Clintons Versuch, Homosexuelle ins Militär zu integrieren, stoppten; es waren demokratische Senatoren, die mithalfen, Clintons revolutionäre Energiesteuer zu kippen; und es waren demokratische Senatoren, die beinahe das Freihandelsabkommen mit Kanada und Mexiko (Nafta) zu Fall gebracht hätten. Es war eine Mischung aus diesen objektiven Hindernissen und der Unerfahrenheit der jungen Administration, die Bill Clinton zwei für den weiteren Verlauf seiner Amtszeit entscheidende Niederlagen eingebracht hat.
Die erste mußte er auf innenpolitischem Parkett einstecken: Der Senat kippte sein stimulus package, jenes Konjunkturprogramm, das ein wenig an den New Deal Franklin Roosevelts erinnerte: Jobprogramme für die von Reagan und Bush kahlgeschlagenen Großstädte; Instandsetzung der in weiten Teilen maroden Infrastruktur des Landes; Umschulung und Weiterbildung für ArbeitnehmerInnen. Damit war Clinton nicht nur mit einem entscheidenden Teil seines Wirtschaftsprogramms gescheitert, sondern auch mit einem entscheidenden Teil seiner politischen Konzeption: Clinton hatte die Wahl unter anderem mit der Vision gewonnen, daß ein gemeinsamer Kraftakt von Gesellschaft und Staat das Land wirtschaftlich und ideell wieder auf die Beine bringen kann. Bill Clinton hatte den ehernen Grundsatz der Reagan-Bush-Ära umgeworfen, wonach der Staat der potentielle Feind des Volkes ist. Doch der ist nach dem Scheitern seines Investitionspaketes wieder gültig. Clinton hat dem Rechnung getragen und seine Haushaltspolitik ganz dem Diktat der Defizitbekämpfung unterstellt, die mittlerweile zum Deckmantel für jede Opposition gegen jede Form staatlicher Ausgaben geworden ist.
Die zweite Niederlage vollzog sich in der US-Außenpolitik gegenüber Haiti. Hier wurde, selbst verschuldet, eine Chance vertan, die Weichen für eine fortschrittliche Außenpolitik zu stellen. Clinton hätte durchaus ein Exempel statuieren können: ein multilateral initiiertes Abkommen zur Wiederherstellung der Demokratie und der Rückkehr des gestürzten Präsidenten Aristide notfalls militärisch durchzusetzen. Statt dessen ließ er sich von einer durch und durch kriminellen Militärclique, einem bestellten Mob am Hafen von Port- au-Prince und einer aufgeregten Senatorenschar in Washington ins Bockshorn jagen und begnügte sich mit der schlimmsten aller Optionen: einer Verschlechterung des Status quo. Die haitianischen Flüchtlinge werden weiterhin abgewiesen; ein Ölembargo, das die Militärs treffen soll, trifft die Armen; und die Rückkehr des gestürzten Aristide droht zur Verhandlungsmasse zu werden.
Kein Zweifel – der Clintonschen Reformpolitik und der Neuformulierung einer US-Außenpolitik sind aus strukturellen, ideellen und haushaltspolitischen Gründen enge Grenzen gesetzt. Die Frage ist, ob Clinton diese Grenzen ausreizen kann. Sein großes Potential liegt ohne Zweifel darin, daß er ein originäres Interesse an der Lösung politischer Probleme hat und Symbolik und Populismus mit politischen Inhalten verbinden kann. Sein großes Problem liegt darin, daß er in politischen Drucksituationen und im freien Fall der Meinungsumfragen in oft panischen Opportunismus verfällt. In einer solchen Situation hat er sich den Republikaner und Ex-Reagan- Mitarbeiter David Gergen als Berater und Kommunikator geholt. In einer solchen Situation war er bereit, im Sommer letzten Jahres Bombenangriffe auf Bagdad zu befehlen, um sich selbst aus einem innenpolitischen Tief zu katapultieren. In einer solchen Situation hat er zuletzt den konservativen Geheimdienstmann Bobby Inman für den Posten des Verteidigungsministers nominiert.
In Washington wird ihm das als Kompromiß- und Konsensfähigkeit ausgelegt – paradoxerweise oft von denselben KommentatorInnen und AnalytikerInnen, die ihm gleichzeitig vorwerfen, mit seiner Reform des politischen Systems und der politischen Kultur nicht voranzukommen. Daß Bill Clinton inzwischen, wie jeder andere Präsident vor ihm, gelernt hat, für seine politischen Programme im Kongreß zu feilschen, zu dealen, zu hofieren, zu betteln oder zu drohen, gilt in den Augen des Washingtoner Establishments einerseits als bestandene Reifeprüfung, andererseits als Beweis für sein Versagen, die eingefahrenen Spielregeln und Rituale zu durchbrechen.
Vielleicht ist das am Ende des ersten Jahres gar keine so schlechte Ausgangsposition für das zweite Amtsjahr. Mit der Entmystifizierung des Bill Clinton nimmt auch der enorme Druck ab, unter den nicht zuletzt er selbst sich gesetzt hat: Angetreten mit der Illusion, dieser zerrissenen Gesellschaft einen Konsens anbieten zu können, hat er nun gelernt, daß er für jeden Schritt, jedes Programm, jedes Gesetz neue Koalitionen bilden, neue Mehrheiten formen muß. Nichts ist garantiert in diesen Zeiten, in denen kein kalter Krieg die Nation mehr zusammenhält, in denen eine verstärkte Einwanderung die Demographie des Landes auf den Kopf stellt und der Glaubensgrundsatz vom „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ als Bindemittel nicht mehr so recht taugt. Eines jedenfalls spricht auch in diesen Zeiten für Bill Clinton: Seine schier unerschöpfliche Energie und der eiserne Wille, dem Wort „Politiker“ in den USA wieder einen positiven Beiklang zu geben – und sei es nur aus Eigeninteresse.
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