piwik no script img

„Hier gibt's keine Industrie mehr“

Neugersdorf in Sachsen war einmal die Stadt der Textilindustrie / Heute steht ihr Name noch für den Lkw-Stau  ■ Von Detlef Krell

Hier wird keine dreckige Wäsche mehr gewaschen. Und wo gibt es heute noch Lumpen? Jedenfalls nicht in der Textilbranche. Jacke wie Hose landen auf der Deponie. Sondermüllverdächtig. Also blieb der Textilreinigung und Reißerei GmbH im sächsischen Neugersdorf eben nichts anderes übrig, als das Handtuch zu werfen. Der kleinen Firma, vor hundert Jahren als Gerberei gegründet, fiel es zu, noch vor Jahresende für die Textilindustrie der Oberlausitz das Licht auszuknipsen. Jetzt glimmt nur noch die Notbeleuchtung. Von einst 30.000 Beschäftigten sind 500 in der Branche geblieben.

Der ländlich wirkende Dreiseitenhof der Wäscherei ist leer. Kein Ton dringt aus den Hallen. Eine steile Treppe führt hinauf zu den Büros. Dort halten zwei Männer etwas unwillig in ihrem Gespräch inne. „Was soll's, diese kleine Bude hier fällt doch gar nicht mehr auf bei uns. Zu Lautex hätten Sie mal gehen müssen, da wurden Tausende entlassen.“ Bis Mitte des Jahres hätten die beiden wohl noch mit den Papieren des Betriebes zu tun, erklärt der ehemalige Geschäftsführer. „Dann liegen wir auch auf der Straße“, führt der ehemalige Betriebsratsvorsitzende den Gedanken zu Ende. Die letzte Wäschefuhre ging hier schon im Herbst durch die Mangel. Seitdem sitzen zweiundvierzig KollegInnen, die meisten davon Frauen, zu Hause. Oder beim Arbeitsamt, auf dem Korridor. Einige waren alt genug für das „Vorruhestandsgeld“.

„Es ist doch verwunderlich, daß wir so lange durchgehalten haben“, kommentiert Geschäftsführer Dieter Krummholz nüchtern das Ende des Treuhandbetriebes. Reihum brachen die Auftraggeber zusammen, das Textilkombinat Lautex zuerst, oder sie lösten sich in nichts auf, wie die Offiziershochschule Löbau, die Wohnheime für ausländische ArbeiterInnen oder die „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“ in den Industriebetrieben. „Nach der Wende schrumpften die Aufträge auf 35 Prozent und weniger“, rechnet der Ex-Chef vor. Als eines Tages ein Herr im Seniorenalter mit einem Reprivatisierungsantrag in Neugersdorf auftauchte, da gab es so etwas wie Hoffnung. Vielleicht würde doch jemand investieren und sanieren und privatisieren? Egal, in welcher Reihenfolge. Nein, gar nichts geschah.

Auftraggeber lösten sich in nichts auf

„Eine moderne Wäscherei für die Bevölkerung“ sollte entstehen, auch für Gaststätten und Seniorenheime. Das wäre eine Marktnische gewesen, meinen die beiden Türschließer rückblickend. Die nächste Firma mit gleichem Profil liegt im Nachbarort. „Die kriegen jetzt den warmen Regen ab“, einige Bündel Wäsche mehr zum Überleben. Der Betriebsrat a.D. lacht bitter auf: „Sanierungskonzepte haben wir geschrieben. Jede Menge. Aber keine Bank wollte uns irgend etwas finanzieren. Und wer hätte die ganzen Umwelt-Altlasten übernehmen sollen? Seit den fünfziger Jahren wurde in diesen Hallen mit Chemie gewaschen!“

Die vornehme Zurückhaltung des Geldes wirkt auf die beiden Männer wie ein Symbol für die Region. „Hier gibt's keine Industrie mehr“, urteilen sie unumwunden; dann fallen ihnen doch noch Ausnahmen von der schlechten Regel ein. „Das Möbelwerk, das ist neu; von Lautex ist ein Rest geblieben, dort sieht eh keiner durch; Maschinenbau“, die zweite Hand zum Aufzählen wird nicht gebraucht. Arbeit gebe es durchaus. „Aber man muß sich überlegen, zu welchen Tarifen“, meint Wolfgang Förster. „Du kriegst einen Job für vier Mark die Stunde, ein Vierteljahr lang. Oder, das hatten wir neulich, für 7,50 Mark in einer Tischlerei. Ohne Sozialräume, nichts. Nein, dann doch lieber gesichert arbeitslos.“ Für DDR-Verhältnisse hätten die TextilarbeiterInnen „nicht schlecht“ verdient, nun sitzen sie mit 600 Mark Arbeitslosengeld zu Hause.

Mit bitterem Hohn quittiert der Interessenvertreter einer nicht mehr vorhandenen Belegschaft die politische Diskussion um die Sozialleistungen. Wenn der CDU- Fraktionschef Schäuble behaupte, die Arbeitslosen würden zuviel Geld bekommen und wären nicht mehr motiviert, sich um eine Arbeit zu kümmern, „meint er vielleicht die Abgeordneten seiner Fraktion, die nach der nächsten Wahl arbeitslos werden. Da kann ich ihm nur recht geben.“

Neugersdorf ist eine Kleinstadt mit knapp 8.000 EinwohnerInnen im südöstlichsten Zipfel Deutschlands. Sie ist europaweit bekannt. Ihr Name wird beinahe täglich vom Rundfunk verbreitet: in den Staumeldungen. Eine schnurgerade Straße zieht sich mitten durch die Stadt zur tschechischen Grenze. Von Montagmorgen bis Freitagnacht stehen dort die Lastwagen wie eine Barrikade. In den verwinkelten Nebenstraßen gibt sich der Ort als eine Mischung aus ländlicher Idylle und Industrieanlage. Als sich im 19. Jahrhundert mehrere Manufakturen, Textilgewerbe und Eisengießerei, etablierten, nahm das Weberdorf einen rasanten Sprung an die Spitze des Landes. Um 1900 zahlten die Neugersdorfer das höchste Pro-Kopf- Steueraufkommen in Sachsen. Der alljährliche Jacobimarkt wurde gleich nach der Leipziger Messe genannt. Doch erst ab 1924 durfte sich das Dorf als Stadt bezeichnen.

Zwei Drittel der Stadtgrenze sind heute zugleich Außengrenze der Europäischen Union. Eine Tatsache, die von den Einheimischen meist als Last wahrgenommen wird: Dauerstau auf der Hauptstraße, das Billiglohnland vor der Haustür, und Bonn und Berlin sind weit, von Brüssel gar nicht zu reden. Im Rathaus, einer Fabrikantenvilla aus Neugersdorfs üppigsten Jahren, wirbt eine große Koalition für die Randlage als Standortvorteil. Thomas Bernhard, stellvertretender Bürgermeister und CDU-Mitglied, erinnert an die Historie. Solange zwischen Sachsen und Böhmen lediglich eine Zollgrenze bestand, sei „internationale Arbeitsteilung“ üblich gewesen. Hüben wie drüben waren Weberdörfer zu kleinen Industriestädten herangewachsen, und was die einen brauchten, hatten die anderen. Heute und morgen wäre es für Unternehmen wohl vorteilhaft, wenn auf der einen Seite der Grenze die Qualitätsarbeit und auf der anderen Seite die billigere Lohnarbeit angesiedelt wird. „Langfristig“ sieht der Bürgermeister wieder einen „Wirtschaftsraum Lausitz“ entstehen, zweisprachig und gut sortiert, mit Fäden nach Ost und West. „Das ist das Plus für unsere Stadt.“

Aber wer weiß schon so genau, wann „übermorgen“ ist. Bisher zählt die Stadt „vier, relativ starke, kleine industrielle Kerne“. Alle zusammen bringen sie um die 1.000 Industriearbeitsplätze auf die Waage. Weitere 200 könnte eine Gardinenbude beschäftigen, die noch der Treuhand gehört und sich auf dem Gewerbegebiet niederlassen würde. Das 15-Hektar-Viertel ist der Stolz des Rathauses: „Kein Quadratmeter ist frei“, verkündet der Vizebürgermeister. Deshalb würden jetzt weitere fünf Hektar erschlossen. Neugersdorf kann gar nicht erst in Versuchung kommen, sich den Stadtrand mit Beton zu garnieren, denn der Ort ist zugebaut bis in den vorletzten Winkel. Gleich nach der Stadtgrenze beginnt der Nachbarort. Ein Fünftel der bebauten Fläche sind Industriebrachen. Riesige Hallen und prächtige Verwaltungsgebäude aus dem vorigen Jahrhundert, für die Käufer noch gesucht werden.

Über diese Suche redet der junge Politiker leidenschaftlich; für „parteipolitischen Quark“ dagegen habe man hier „keine Zeit“. Mit der großen Koalition, von CDU bis Bürgerbewegt, sei man „ganz gut gefahren“, den Kommunalwahlen sieht er deshalb gelassen entgegen: „Die Leute glauben sowieso nur noch, was sie anfassen und sehen können.“ Sehen könnten sie immerhin, daß die Stadtregierung sich um Investoren bemühe, „keine Giganten, sondern gut gemischten Mittelstand“, und daß sie Fördermittel heranschaffe, die nicht mit der Gießkanne verteilt werden, sondern „nach dem Windhundprinzip“ aus Dresden und Bonn zu beschaffen sind. Bei den Landtags- und Bundestagswahlen würden die großen Parteien allerdings ihr „blaues Wunder“ erleben, „aber das haben die Politiker selbst angerichtet“.

Zum Beispiel in der Wirtschaftspolitik. Niedriglöhne würden die Oberlausitz überhaupt nicht retten, keinen soliden Investor in den Zipfel locken. „Jeder vernünftige Unternehmer, der sich vornimmt, an diesem Standort zu bleiben und nicht nur Fördergelder mitzunehmen, der rechnet doch nicht mit dem momentan niedrigen Lohnniveau, sondern er sieht in die Zukunft.“ Und die Zukunft könne nur heißen: hohe Qualifikation der Beschäftigten, modernste Technologien. Und die entsprechenden Tarife.

Was nicht ausschließt, daß für einige Zeit Kompromisse gefunden werden, faule wie ehrliche und auch an der Gewerkschaft vorbei. Längst sei es „gang und gäbe, daß unter Tarif bezahlt wird“, weiß Günter Irmscher, der Direktor des Arbeitsamtes Bautzen. Betroffen seien der Maschinenbau wie die Gastronomie, der Bau und manche andere Branche. So mußten Frauen, die sich als Textilarbeiterinnen zu Fachverkäuferinnen umschulen ließen, erleben, daß sie von den nagelneuen Supermärkten genau wegen dieser Fachausbildung nicht genommen werden: Ungelernt ist billiger, und die KundInnen erwarten ja sowieso keinen Service.

Frauen werden am schnellsten arbeitslos

Das Arbeitsamt Bautzen meldet eine Arbeitslosenquote von 16,8 Prozent. Das ist nach Annaberg und Riesa die höchste in Sachsen. Mehr als 40 Prozent in Sachsen sind auf irgendeine Art beim Arbeitsamt „beschäftigt“. In einer Außenstelle des Bautzener Arbeitsamtes wollte sich kürzlich, und das nicht zum ersten Mal, ein verzweifelter Arbeitsloser mit der Pistole einen Job verschaffen. Waren es vor zwei, drei Jahren zuerst die Frauen, die aus den Textilbetrieben auf die Straße gesetzt wurden, sind es heute wieder zuerst die Frauen, die ihre Büro- und Verwaltungsjobs verlieren. 69,4 Prozent der Arbeitslosen im Amtsbezirk Bautzen sind Frauen. Diese Zahl wird weiter steigen. Die Kommunen und die Sozialversicherungen sind vorrangige Träger von „AB-Maßnahmen“, die meist damit zu Ende gehen, daß eben keine „Arbeit beschafft“ werden konnte. Etwas günstiger sieht es bei den sogenannten „typischen Männerberufen“ aus. So ist die Arbeitslosigkeit unter Maschinisten und Schlossern im vorigen Jahr von Quartal zu Quartal gesunken. Zudem sind ABM-Angebote meist für Männer gedacht.

Günter Irmscher, Direktor des Arbeitsamtes Bautzen, jongliert gar nicht gern mit dem dürren Zahlengestrüpp auf seinem Schreibtisch. Dafür kennt der gebürtige Chemnitzer und Wahl-Lausitzer zu viele Betroffene aus nächster Umgebung, auch aus der eigenen Familie. Er appelliert an die Betreiber von „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“, sich nicht nur mit „Wunschkandidaten“ zu bedienen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt doch noch einige Chancen hätten. „Wo immer es die Möglichkeit gibt“, sollten Frauen bevorzugt angenommen werden, alleinerziehende Frauen zuerst. Deren Anteil an der wachsenden Zahl von Langzeitarbeitslosen steige geradezu explosiv. Als ein „peinliches Hickhack“ kritisiert der Direktor die unendliche Geschichte um die Pflegeversicherung. Wenn es sie denn gäbe, dann hätte die Pflege doch auch einen „arbeitsmarktpolitischen Effekt“: Frauen wären wieder gefragt. Als Haushaltshilfe.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen