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Falsche Anschläge, Freunde und Opfer

■ Behinderte kennen keinen Schmerz, lassen sich kriminalisieren und werden gern als Opfer rechtsradikaler Gewalt dargestellt. In der Euthanasiedebatte sind sie einstweilen unterlegen - eine zweite ...

Ein Fazit voran: Der Widerstand gegen die Debatte, ob behinderte Menschen getötet werden dürfen oder nicht, ist gescheitert.

„Faschistische Protest-Methoden“

Gerade wegen der vermuteten größeren Sensibilität hierzulande mußte offenbar die Biographie Peter Singers als Waffe dienen, um auf diese Weise Lehren aus der deutschen Geschichte zu vermeiden. Philosoph Singer selbst erinnert sich bei den ihm in Zürich entgegenschallenden „Singer raus!“- Rufen „überwältigender Gefühle“, und daß es so auch damals gewesen sein mußte. Nur hätte man damals nicht „Singer raus“, sondern „Juden raus“ skandiert.

Der beschriebenen Umkehrung von Täter und Opfer folgte auch der Rowohlt-Verlag in einer Pressemitteilung vom 28. 9. 1992: „Nur weil Peter Singer in unerträglicher Dumpfheit als Nazi und Euthanasiedenker verunglimpft wird, muß darauf verwiesen werden, daß die Familie des 1946 geborenen Australiers aus ihrer österreichischen Heimat vor der mörderischen Judenverfolgung fliehen mußte. Viele seiner zurückgebliebenen Verwandten sind in Auschwitz und anderen KZs umgekommen.“ Und mit einer schon schmerzlichen Ignoranz gegenüber der gleichzeitig vollzogenen Vernichtung Behinderter heißt es über die auf der Buchmesse 1992 gegen die beabsichtigte Rowohlt-Publikation des Singer-Buchs protestierenden Behinderten: „Der Vorwurf des Faschismus fällt auf jene zurück, die sich mit radikalen Aktionen jeglicher Diskussion verweigern und allen Argumenten verschließen.“

Ignoriert wurde bei dieser Art von Rechtfertigung, daß es der Neo-Euthanasist Peter Singer selbst war, der mit dem Verweis auf die positiven Elemente der Naziherrschaft Behinderte bedrohte. Von historischer Schuld unbelastet, erklärte er schon 1984 in seinem bei Reclam erschienenen Buch „Praktische Ethik“: „Wir können die Euthanasie nicht nur deshalb verdammen, weil die Nazis sie durchgeführt haben, ebensowenig, wie wir den Bau von neuen Straßen aus diesem Grund verdammen können.“ Eine Aussage, die zumindest suggeriert, daß bei der vollzogenen Vernichtung Behinderter durch die Nazis lediglich die falschen Leute „barmherzig und richtig handelten“.

Die auf den Kopf gestellte Diskussion zeigt, unbeschadet von Singers Äußerungen, erstaunliche Wirkung: Inzwischen fühlte sich sogar die Frankfurter Rundschau verpflichtet, der Singerschen Euthanasie das Wort zu reden und spekulierte auf eine „breite Übereinstimmung ... wie in den schwersten Fällen der Spina Bifida“, da „die Lebensverlängerung absehbar ein übergroßes Maß an Qualen bescheren wird“.

Die beiden Autoren Peter Singer und Helga Kuhse [seine deutsche Co-Autorin] haben in ihr Werk immer wieder salvatorische Klauseln eingestreut, die für Behinderte angeblich keine Bedrohung darstellen: „In unseren Schriften findet sich nichts, was einem behinderten Menschen Anlaß zu Befürchtungen geben könnte, wir seien in irgendeiner Form eine Bedrohung für ihn.“ Gerade diese Stellen eignen sich hervorragend, ihre Kritiker der Verleumdung zu bezichtigen. Jedoch erklären die Autoren nur eine Seite weiter: „Wäre man den Empfehlungen dieses Buches vor, sagen wir, 20 Jahren gefolgt, würden manche behinderte Menschen heute nicht leben.“

Disqualifizierender Über-Lebenswille

Den Überlebenswillen von Behinderten wertet das Bio-Ethik-Duo aus Melbourne wie folgt: „Es muß psychologisch sehr schwer sein, das eigene Leben als nicht lebenswert zu befinden.“ Weiter stellen sie, auf das schlechte Gewissen bei Behinderten gegenüber deren Eltern abhebend, entmündigend fest: „Und es wird um so schwerer, wenn man weiß, welch unendliche Opfer die Eltern gebracht haben, um einen am Leben zu erhalten.“ Immerhin halten die beiden Australier trotz der in solchen Äußerungen steckenden Alltagspsychiatrisierung deren „Lebenslüge“ nicht nur für „verständlich, sondern, im Gegensatz zur Zeit, sogar für erörterungswürdig. Deren Feuilleton-Chef Ulrich Greiner bedauerte, daß die „Diskussion ... Stichwort ,Euthanasie-Debatte‘... in diesem Lande nicht geführt werden“ könne. Zu den militanten Gegnern der Euthanasie, so Greiner, „gehören verschiedene Organisationen von Behinderten. Deren Motive sind verständlich (wenn auch nicht ihre Methoden) und müßten nicht erörtert werden, wenn nicht eine gesinnungsstarke Teilöffentlichkeit sich aus ideologischen Gründen dem prohibitiven Begehren der Behinderten angeschlossen und es erfolgreich unterstützt hätte.“

Wer so argumentiert – Behinderte also aus der an Umfang noch zunehmenden Debatte ausschließt – hat ihre gedankliche Vernichtung offenbar bereits vollzogen: Der von Behinderten geäußerte (Über-)Lebenswille scheidet als ernstzunehmendes Argument aus. Statt auf die durchaus berechtigten Ängste Behinderter einzugehen, wurde ihre Kritik an der geplanten Rowohlt-Veröffentlichung mit einer Verbotsforderung gleichgestellt und der Über-Lebenswille von Behinderten in nationalsozialistische Tätertradition eingereiht.

Als Rowohlt-Verlagschef Michael Naumann Ende April 93 die Kritiker überraschend wissen ließ, „daß das Buch aus privaten Gründen, für die der Verlag keine Rechenschaft schuldig ist, nicht in unserem Hause erscheinen wird“, schockte Die Woche die liberale Bürgerschaft im Lande mit der Mitteilung, daß „Toleranz nur ein Wort“ sei. Denn für Redakteurin Mikula schien der Sachverhalt völlig klar: Nur „Drohungen der schlimmsten Art und in Folge der Abwägung für Leib und Leben mehrerer Dutzend Mitarbeiter“ könnten Naumann dazu bewogen haben, vom Vertrag zurückzutreten. Mit spekulativer Konsequenz entlarvte sie in der Woche die Kritiker des Buchprojekts („auf das Paradoxeste borniert, radikal und fundamentalistisch“) als eine neue Gruppierung der Neonazis: „Das helle Feuer der Aufklärung leuchtet – in den Köpfen der Bücherverbrenner.“

Im Buchreport Nr. 20 bestätigte Rowohlt-Verlagsleiter Naumann die Gewaltphantasien der wackeren Kämpferin für die Meinungsfreiheit. Ausführlich schilderte er die angeblichen Gründe, die ihn („Ich empfinde das allerdings als meine schwerste verlegerische Niederlage“) bewogen hätten, vom Vertrag mit Kuhse und Singer zurückzutreten. Da heißt es in fürsorglicher Patriarchenmanier: „Ich hatte also abzuwägen zwischen der Sicherheit meiner Mitarbeiter und dem Schutz des Grundrechts auf Meinungsfreiheit ... Ich habe keine konkreten Gegner, ich habe lediglich polizeiliche Hinweise, daß in gewissen Milieus über Gewalt gegen Verlag und Sortiment konkret nachgedacht wurde.“ Und: „Die Frage ist, wo der Protest strafbar zu werden beginnt.“

Kriminalisierungsforderungen solcher Art gegenüber Euthanasiegegnern empörte die „aufrechten“ Reste der niedergehenden Behindertenbewegung und ihre radikalen nichtbehinderten Stellvertreter wenig. Im Gegenteil, die Freude war groß. Eigneten sich doch diese Unterstellungen vorzüglich, dem öffentlich propagierten Bild des Hilflosen die Gegenlüge vom mächtigen und militanten Behinderten entgegenzuhalten.

Bisher verschwieg Naumann die „privaten“ Gründe: Daß der Rowohlt-Beirat nämlich geteilter Meinung war. „Bei einem Gespräch mit dem Beirat stellte sich heraus, daß zwei der Beiratsmitglieder schwerstgeschädigte Kinder beziehungsweise Enkel haben; ein Mitglied riet mir, trotz Bedenken, das Buch von Kuhse/Singer zu publizieren, ein anderes Mitglied riet mir ab.“

Neigung zur Selbst- Kriminalisierung

Bald nach Naumanns später Beichte folgte in der taz eine Werbeanzeige für das Buch, das mittlerweile in einem Kleinverlag erschien. Trotzig wurde daraufhin in Leserbriefen die Illusion verteidigt, gerade die Behinderten hätten einen der größten Buchkonzerne in die Knie gezwungen. „Wir haben im Rahmen der Anti-Eugenik und Anti-Euthanasiebewegung nicht umsonst die Erscheinung des Buches bei Rowohlt verhindert, um dann eine so unkritische Werbung dafür in einer sich kritisch verstehenden taz vorzufinden“. Bei dieser Art von Selbstdarstellung spielte es keine Rolle, daß gerade durch die organisierten Protestbriefe der Werbeeffekt der ansonsten kaum erwähnenswerten Kleinanzeige beträchtlich stieg.

Die Überschätzung der Macht des Protestes ist eine Eigenschaft beider Seiten. So behauptete der Erlanger Philosoph Theodor Ebert, „... daß ein ganzer Philosophie-Kongreß abgesagt wurde, weil Singer dort reden sollte, ist auch gezielter Fehlinformation zuzuschreiben.“ Doch die Absage des 15. Internationalen Wittgenstein-Symposiums, das im Sommer 1991 unter dem Thema „Angewandte Ethik“ stattfinden sollte, hatte mit gezielter Fehlinformation nicht das geringste zu tun. Im Gegenteil. Die Ankündigung einer Gegenveranstaltung veranlaßte vielmehr den damaligen Präsidenten der Wittgenstein-Gesellschaft, Dr. Adolf Hübner, sich genauer mit Peter Singers Buch Praktische Ethik zu beschäftigen. Er lud Singer aus. In seiner offenbar fest verankerten Vorstellung „Wer nicht für uns ist, kann kein Philosoph sein“, fand Tierschützer Singer die Qualitäten des damaligen Präsidenten der Wittgensteingesellschaft plötzlich unzureichend: „Dr. Hübner ist kein Philosoph; er ist Tierarzt im Ruhestand.“

Auch die Zeit verbreitete im Juni 1993: „Ein Wittgenstein-Symposium, das 1991 in Niederösterreich stattfinden sollte, wurde wegen angedrohter Anschläge abgesagt.“ Doch die zu dieser Behauptung gehörigen Fakten blieb sie logischerweise schuldig. Dabei hätten sich, bei eifriger Recherche, durchaus „Anschläge“ auf das leibliche Wohl der Philosphen lokalisieren lassen. Das „Zensuropfer“ Singer, gewohnt märtyrerhaft, ließ nämlich selber verlauten, daß allein die „Drohung“ einer Gegenveranstaltung Behinderter „sich als so wirksam [erwies], daß sich Kirchberger Gastwirte angeblich weigern wollten, die Philosophen während des Symposiums zu bewirten“. Diesen Vorfall als Terroranschlag zu bewerten würde in anderen Zusammenhängen selbst Herr Greiner als lächerlich erscheinen.

Ideologie der „Leidfreiheit“

Dennoch wäre es zu einfach, die Etablierung der neuen „Lebensunwert-Debatte“ nur der Demagogie der Euthanasie-Befürworter zuzuschreiben. Wir [die Betroffenen, Anm. d. Red.] hätten deutlich machen müssen, daß nicht nur die Folgen einer Debatte, sondern die Debatte an sich schon Leiden verursacht: Im Bewußtsein zu leben, seine Lebensberechtigung beinahe tagtäglich unter Beweis stellen zu müssen, ist nicht nur schwer, sondern eine Zumutung. Gerade diese

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Leiden jedoch behielten wir für uns: Der aufrechte Behinderte kennt keinen Schmerz. Da die Debatte scheinbar keine aktuellen Spuren bei uns hinterließ, konnte ein Teil der Medien sich relativ einfach für die Meinungsfreiheit und gegen die Würde von Behinderten entscheiden. Wir hätten die tödlichen Folgen alleine schon der Debatte deutlich machen müssen.

Der schwerkranke Philosoph Karl Jaspers beschrieb einmal seine Situation als Bedrohter so: „Der Selbstmord ist nicht mehr Selbstmord, wenn er die würdige Vorwegnahme einer wie immer gearteten Hinrichtung ist.“ Und „Die philosophischen Gründe gegen den Selbstmord hören auf, wo der Untergang ohnehin gewiß ist, unmittelbar bevorsteht und keinen Spielraum eines hervorbringenden Leben läßt – und wo die Nähe von Menschen, die unser Dasein bedingungslos wollen, fehlt.“

Gerade das linksliberale Spektrum jedoch ließ den bedingungslosen Willen für unser Dasein vermissen und verletzte zusätzlich den Stolz der emanzipierten Behinderten. Aus der nicht unbegründeten Angst, daß das Eingeständnis von Leid sich als Argument für die Tötung des Leidenden festsetzt, wurde der Öffentlichkeit das Bild vom absolut leidfreien Behinderten vorgegaukelt. Dadurch mußten wir uns lächerlich machen. Verständlicherweise konnte kein Mensch verstehen, weshalb es sich gerade bei den Behinderten um die einzig leidfreie Bevölkerungsgruppe handeln sollte. Aggressiv wurde das Leiden ignoriert. Diese Vorgehensweise brachte aber all diejenigen in Mißkredit, die wagten, sich mit den berechtigten Ängsten vor der modernen Medizin und mit den damit verbunden Sorgen vor einem Leben mit Einschränkungen auseinanderzusetzen.

Kämpferisch entlarvte die Eliteeinheit zur Rettung behinderten Lebens, das „Anti-Euthanasie-Forum“, eine Tagung von Elternverbänden, und verdächtigte einige als Referenten auftretende Euthanasiegegner der heimlichen Kollaboration mit den „Lebensunwertphilosophen“: „... [es] hat sich im Ankündigungstext zur Veranstaltung die selektive Sichtweise nichtbehinderter Elternverbände durchgesetzt, wenn behauptet wird, ,die Geburt eines behinderten Kindes [...] markiert für jeden Menschen einen leidvoll erfahrenen Einschnitt [...]‘.“

Dieser Entlarvungsstil deutet auf einen trotzigen Selbstbetrug hin. Denn in verschiedenen Bereichen ist es einfach praktischer, nichtbehindert zu sein. Dazu kommt noch die tödliche Wertschätzung gegenüber Behinderten. Tatsache ist, daß zumindest einige Behinderte nicht nur an gesellschaftlichen Bedingungen leiden. Daher ist der Wunsch nach einem gesunden, nichtbehinderten Kind legitim und keineswegs automatisch eine Form von Behindertenverachtung. Erst wenn bei nicht wunschgerechten Kindern an Aussonderung gedacht wird, handelt es sich um den todbringenden Gesundheits-Fetisch.

Syndrom fürsorglicher Verkrampfung

Schon seit längerem sind wir Behinderte für viele Nichtbehinderte nur noch durch fürsorgliche Verkrampfung erträglich. Doch gerade dieses von moralischer Verlogenheit geprägte Verhalten war eine der Grundlagen für die Etablierung der Euthanasie-Debatte. Die vor allen Dingen in den achtziger Jahren Nichtbehinderten verordnete Vorurteilsfreiheit lautete: „Behinderte sind anders, nur dürfen wir es sie nicht merken lassen, denn sie sind zu empfindlich.“ Behinderten wurde beigebracht, „um integriert zu sein, bräuchten sie den Kontakt mit Nichtbehinderten um jeden Preis“. Gerade in der von den Euthanasie-Philosophen propagierten ehrlichen Auseinandersetzung sahen viele nun die Chance, aus dieser fürsorglichen Verkrampfung auszubrechen. Es dürfte nicht ganz einfach sein, Versäumtes nachzuholen, wenn mittlerweile jede Form dieser Auseinandersetzung zu einer Debatte um die Legitimation des Tötens zu werden droht. Eine Kampagne, in der notwendige Konflikte in das Ghetto fürsorglicher Verkrampfung zurückgedrängt werden, fördert unterschwellig jedoch nur Aggressionen gegenüber Behinderten.

Die anfangs durchaus gerechtfertigte Verweigerung einer Euthanasiedebatte hat Spuren hinterlassen. Notwendiges Erkennen von Realität wird dogmatisch durch Rituale ersetzt. Wenn weiterhin an der Verweigerungsstrategie festgehalten wird, obwohl überall debattiert wird, können die Euthanasieprofessoren sich weiter in der Rolle des Zensuropfers bestätigt fühlen.

Anpassung durch Angst vor Liebesentzug

Obwohl allseits das Bild vom stolzen Emanzipationskrüppel zur Schau getragen wurde, vermißten wir zunehmend die gesellschaftliche Zuneigung. Durch scheinbar kluge Analysen versuchten wir uns Anerkennung zu erschleichen. Auf die Zuneigung ihrer nichtbehinderten Schwestern aus der Frauenbewegung schielend, erklärten sich behinderte Frauen gleich zu doppelt Unterdrückten.

Wenn in Ethiklehrbüchern mittlerweile auf Glücks- und Leideinheiten zurückgegriffen wird und bei einem Überhang an unterstellten Leideinheiten die Lebensberechtigung verneint wird: wie können wir uns wehren, wenn wir – was Unterdrückung betrifft – in unseren eigenen Reihen eine ähnliche Rechenlogik akzeptieren? Aus Angst vor Liebesentzug durch die Frauenbewegung wurde beispielsweise das Problem, daß in nahezu allen Abtreibungsargumenten auch Euthanasieargumente stecken, verdrängt. Es wurde einfach nicht zur Kenntnis genommen, daß gerade in den Ländern, in denen die Abtreibung am liberalsten gehandhabt wird (siehe Holland), auch die Euthanasie am weitesten fortgeschritten ist.

Um der Frauenbewegung zu beweisen, welch tüchtige Abtreibungsbefürworterinnen Swantje Köbsell und Theresia Degener sind, setzen sich die beiden behinderten Autorinnen des Buches „Hauptsache es ist gesund“ leichtfertig dem Vorwurf einer links-feministischen Auschwitz-Lüge aus. Einem Abtreibungsbefürworter, der abtreibende Frauen verleumdet und sie mit Nazi-Mördern gleichsetzt, entgegnen die beiden Frauen in ihrem Buch doch tatsächlich: „Auschwitz hatte mit der Euthanasie behinderter Menschen nichts zu tun.“ So als wären keine Behinderten dorthin transportiert und in Auschwitz keine Leichen von einem Mengele seziert worden. Die im Osten operierenden SS-Einsatzverbände und die reguläre Wehrmacht räumten psychiatrische Kliniken leer. Und die Vergasungsspezialisten im Osten hatten ihr Handwerk in den Euthanasieanstalten Brandenburg, Grafeneck und Hadamar erprobt.

Unser Scheitern in der Euthanasiedebatte ist ein Ausdruck der Schwäche in der Behinderten- und Krüppelbewegung. Schon lange haben die Reste der Krüppelbewegung den Versuch aufgegeben, sich aus der Anpassung an Nichtbehinderte zu befreien. Stillschweigend akzeptierten wir, daß die Stellvertreter, wenn sie sich für unser Weiterleben einsetzen würden, auch wieder das Recht hätten, über uns zu bestimmen. Der Behindertenbereich ist für Nichtbehinderte erneut attraktiv geworden. Man möchte in der Caritas nicht nur seinem Job nachgehen, sondern sich zudem als Kämpfer auf dem Schlachtfeld „Tod oder Leben“ hervortun. Sein „selbstloser Einsatz“ für das Leben Behinderter sichert ihm offenbar erneut Anerkennung. Und die Angst der Behinderten, in diesem Klima ihre nichtbehinderten Stellvertreter zu verlieren, ist so groß, daß sie ihnen das Analysieren wieder überlassen.

Rechte Gewaltwelle gegen Behinderte?

Erschreckt nahm ich zur Kenntnis, daß die rechtsradikale Gewalt gegenüber Behinderten zunimmt. Dabei verfügen die rechtsradikalen Schläger über eine erstaunliche sozialwissenschaftliche Sprache. Glaubt man den Medien, werden beinahe täglich Behinderte als „unnütze Esser“ und „lebensunwertes Leben“ beschimpft. So analysierte unser treuester Stellvertreter, Oliver Tolmein, in Konkret 11/92 die Zunahme der Gewalt an behinderten Menschen als Folge der Euthanasiedebatte: „Die von deutschen Akademikern engagiert betriebene Euthanasie zeitigt Folgen: In Stendal haben Rechtsradikale eine Behindertenschule überfallen.“

Allerdings wurden Gewaltanwendungen gegen Behinderte überhaupt erstmals registriert – genau deshalb konnte von einer rechtsradikalen „Gewaltlawine“ gegenüber Behinderten nicht die Rede sein. Bei dem von Tolmein enthüllten rechtsradikalen Überfall handelte es sich nach Auskunft des Schulträgers, des „Reichsbundes Berufsfortbildungswerk“, um eine private Eifersuchtsgeschichte, die auch anderswo und auch ohne betroffene Behinderte hätte passieren können. Dennoch wird dieses Ereignis immer wieder – obwohl die Tatsachen auf dem Tisch liegen und die Täter schon verurteilt sind – in die Rubrik „Gewalt gegen Behinderte“ gepackt. Auch Tolmein ließ sich seine Enthüllung nicht miesmachen und entlarvte Eifersucht als rechtsradikales Phänomen.

Weshalb kann nicht deutlich erklärt werden, daß die zu Recht befürchtete Gewaltlawine nicht stattgefunden hat? Ist es legitim, aus einer kämpferischen Verliebtheit ins Drama heraus Behinderte in ihrem Lebensalltag zu verunsichern und damit selbst subtile Gewalt auszuüben?

Lichterketten als Restliebe-Illusion

Anscheinend fühlen wir uns gekränkt, daß es bei den Rechtsradikalen noch kein einheitliches Feindbild von Behinderten gibt. Sicher ist für die Flucht in die Opferrolle auch die Euthanasiedebatte verantwortlich. Nachdem wir durch die entwürdigende Lebensunwertdebatte nicht mehr gleichberechtigt leben dürfen, wollen wir wenigstens gleichberechtigt sterben. Zweifellos verbarg sich hinter dem Gerücht von der Gewaltlawine Rechtsradikaler auch der strategische Versuch, die Propagandisten der sauberen Tötungseuthanasie in die Nähe rechtsradikaler Schläger zu drängen und dadurch etwas „Liebe“ von der Lichterkettenbewegung abzustauben.

Die Mär von rechtsradikalen Übergriffen scheint für uns wesentlich erträglicher zu sein als die Schmerzen, die uns Linke und Liberale bei ihrem Einsatz für die Euthanasiedebatte zugefügt haben. Daher versuchen wir bereitwillig, unsere spezifische Bedrohung durch das Eintauchen ins „Massenleid“ zu negieren. Auch diese unsere Sehnsucht wird durch Oliver Tolmein befriedigt. So berichtet er von dem bisher schwersten Überfall Rechtsradikaler auf Behinderte, vom Mord an einem geistig behinderten Lagerarbeiter aus Siegen. Statt wenigstens einmal bei der Wahrheit zu bleiben, versucht er den Mord in eine Kontinuität staatlicher Komplotte einzuordnen und suggeriert einen Zusammenhang zwischen Euthanasiedebatte und der Verschärfung des Asylrechts. In seinem Buch „Wann ist der Mensch ein Mensch – Ethik auf Abwegen“ berichtet der Journalist auf Abwegen, daß der Täter „mit drei Kumpanen im Oktober 1992 einen Flüchtling aus Sri Lanka bewußtlos geschlagen“ hat. Das eigentliche Opfer, ein vom akademischen Austauschdienst geförderter Gastdozent der Uni Siegen, erschien unserem Entlarver ungeeignet, den Zusammenhang zwischen Euthanasiedebatte und Asylpolitik zu verdichten. Dazu eignete sich nur ein Flüchtling.

Bei dieser versuchten Gleichstellung wirkt es natürlich störend, daß gerade der Vater der Verschärfung des Asylrechtes, Wolfgang Schäuble, sich als entschiedener Gegner der Euthanasiedebatte zu erkennen gibt. Zwar möchte Schäuble, was das Auftreten von Peter Singer betrifft, „nicht den Anschein staatlichen Drucks auf Rundfunkanstalten erwecken“. Dennoch meint der CDU/CSU- Fraktionsvorsitzende: „Es ist gut, wenn die Verbände, Kirchen, Gewerkschaften etc. gegenüber den Fernsehanstalten anmahnen, die Grenzen eines verantwortbaren Journalismus einzuhalten. Dies liegt letztendlich auch im ökonomischen Interesse der Sender, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß die werbetreibende Wirtschaft auf Dauer für ihre Produkte in einem solchen Zusammenhang werben möchte.“

Die Zwecklosigkeit des Debattenboykotts

Der Glaubwürdigkeitsverlust der Euthanasiegegner muß gestoppt werden. Dazu gehört auch die Rückeroberung der Gleichberechtigung zwischen den bedrohten Behinderten und Nichtbehinderten im Widerstand. Unumgänglich scheint mir auch die Aufgabe der bisherigen Verweigerungsstrategie. Sie ermöglichte es zunehmend, daß Singer als Opfer angeblich undemokratischer Vorgehensweisen von liberalen Medien populistisch beschützt wurde. Nun muß er vom Podest des Zensuropfers heruntergeholt werden. Da ihr Boykott alleine die Euthanasiephilosophie nicht mehr zurückzudrängen vermag, müssen wir es, obwohl es unzumutbar scheint, durch Diskussionen versuchen.

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