: Armut ist mehr als zuwenig Geld
Die Zahl der Ostdeutschen, die in eine dauerhafte Armutsposition abgedrängt zu werden drohen, nimmt zu. Das ist eines der Ergebnisse im „Armutsbericht“ des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und des DGB, der heute in Bonn vorgestellt wird.
In Ostdeutschland bildet sich eine Armutspopulation nach westdeutschem Muster heraus: Wer gesundheitlich eingeschränkt, behindert, alleinerziehend oder einfach „zu alt“ ist, hat auf dem Arbeitsmarkt kaum noch eine Chance und ist damit armutsgefährdet. Ein zunehmender Teil der Ostdeutschen wird von der fortschreitenden Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West abgekoppelt. Die Einkommen im unteren Bereich differenzieren sich immer mehr aus; die Zahl derer, die in eine dauerhafte Armutsposition abgedrängt zu werden drohen, nimmt zu. Zu diesen Ergebnissen kommt der „Armutsbericht“ des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPWV), der heute in Bonn vorgestellt wird.
Da die Bundesregierung auf die seit Jahren erhobene Forderung nach einer Armutsberichterstattung nicht eingeht und amtliche Daten erst mit großer zeitlicher Verzögerung zur Verfügung stehen, hatte der DPWV bereits 1990 und 1992 eigene Untersuchungen durchgeführt. Im nun vorgelegten „Armutsbericht“ analysieren die VerfasserInnen zum einen die Daten des sozio-ökonomischen Panels des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung von 1990 bis 1992, die sich auf die gesamte Bundesrepublik beziehen. Hierbei handelt es sich um eine Längsschnittuntersuchung, an der sich im Westen 5.921 und im Osten 2.179 Haushalte beteiligten. Zum anderen haben sie für den Zeitraum von Juli 1992 bis Juni 1993 Sozialhilfedaten aus sechs Städten und Landkreisen im Osten ausgewertet. Zusätzlich befragten die AutorInnen Betroffene besonderer „Problemgruppen“, wie Arbeitslose, Alleinerziehende, Wohnungslose, Behinderte und chronisch Kranke sowie Senioren.
Armut wird landläufig immer mit zu geringem Einkommen gleichgesetzt. Dagegen definieren die VerfasserInnen Armut als Häufung von mindestens zwei Unterversorgungslagen aus den Bereichen Arbeit, Wohnen, Bildung sowie Verfügbarkeit sozialer und gesundheitlicher Dienste. Setzt man die Armutsschwelle bei 50 Prozent des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens an, lebten 1992 10,1 Prozent der Deutschen in Einkommensarmut. Dabei lag der Anteil im Westen bei 7,5, im Osten bei 14,8 Prozent.
In Westdeutschland stellen AusländerInnen die am stärksten von Armut betroffene Gruppe: 44,2 Prozent waren mit Wohnraum unterversorgt, 16,7 Prozent gelten als einkommensarm. In den neuen Bundesländern gehören Familien und Alleinerziehende mit mehreren Kindern zu den besonders armutsgefährdeten Gruppen. Demgegenüber sind alte Menschen als traditionelle Armutsgruppe als Sozialhilfeempfänger im Osten bisher kaum vertreten. Die globale Anhebung der Altersrenten in Ostdeutschland unmittelbar nach der Wiedervereinigung habe zu einer erheblichen Reduzierung der Altersarmut beigetragen, so die Schlußfolgerung der Studie.
Die Auswertung der Sozialhilfe-Sondererhebung ergab weiter, daß 40,6 Prozent der AntragstellerInnen im Untersuchungszeitraum bereits länger als ein Jahr ununterbrochen Sozialhilfe bezogen. Dazu kommen 10,5 Prozent Empfänger, die in einer Art Drehtüreffekt wiederholt auf Sozialhilfe zurückgreifen mußten. Vor allem unter Alleinerziehenden und Familien mit drei und mehr Kindern waren mit 56,3 und 45,8 Prozent ein hoher Anteil von Langzeitbeziehern festzustellen. Für einen großen Teil der Sozialhilfebezieher wird die Hilfe zum Lebensunterhalt zu einer dauerhaften Grundversorgung. Bei denjenigen, die nur kurzfristig auf Sozialhilfe angewiesen sind, dient diese häufig der Überbrückung, solange vorrangige Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld noch nicht ausgezahlt werden. In diesem Fall „ist die Sozialhilfebedürftigkeit also durch den Sozialstaat mitverursacht“, heißt es in der Studie. Dorothee Winden
W. Hanesch u.a.: „Armut in Deutschland“. rororo aktuell, 19,90 DM.
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