: Versorgungsnotstand in Mitte
■ Ein Spaziergang durch die realkapitalistische Mangelwirtschaft inmitten der Hauptstadt / Schmuck und Mercedessterne statt Käse und Zahnpasta / Und was bringt die Regierung?
„Exklusivität in Berlins neuer Mitte.“ Das verspricht die Bautafel vor dem „Quartier 206“, einem von drei Blöcken der derzeit entstehenden Friedrichstadtpassagen. Quartier, das klingt nach gewachsenem Stadtviertel mit kleinen Wegen und großem Angebot. Doch von wegen kleine Wege: keine Kaufhalle, kein Bäcker, kein Fleischer, noch nicht mal eine Tankstelle mit Verkaufsshop. Einzig die „Einkaufsquelle“, ein Imbiß mit kleinem Lebensmittelangebot, bietet Buletten und Bier.
„Zum Einkaufen mußte ich immer nach Kreuzberg“, sagt Thorsten Schmitz, einer der wenigen Anwohner. Inzwischen ist er nach Schöneberg gezogen, wo es auch Käse gibt und Zahnpasta. Im Dunstkreis der Großbaustelle Friedrichstraße herrscht nach der sozialistischen Ödnis nun die kapitalistische.
„Zum Einkaufen bis in die Leipziger“ muß Mirko Schade. Seit drei Jahren wohnt er an jenem Ort, den zahlreiche Berlinführer gerne als „einen der schönsten Plätze Europas“ besingen, dem Gendarmenmarkt. Doch zwischen den Berliner Dömen findet man nur geistige Nahrung. „Die Marktwirtschaft“, schimpft Schade, „besteht hier nur aus teuren Restaurants. Lebensmittelläden kennt sie keine.“
420.000 Quadratmeter Bürofläche sind derzeit im Berliner Bezirk Mitte im Bau. Der Wohnungsanteil ist verschwindend gering und beträgt bei den Friedrichstadtpassagen nur etwa sieben Prozent. Aber allen Phantasien der Investoren zum Trotz wohnen inmitten der Hauptstadt noch immer 80.000 Menschen. 10.000 von ihnen in der Friedrichstadt. Zwar gilt die Versorgung des 1688 vom Großen Kurfürsten angelegten Stadtquadrats statistisch als gesichert. Doch eher ist man auf Rügen am Meer als in Mitte am Supermarkt. Die Wege zum nächsten Fleischer jedenfalls sind um die Französische, Behren- oder Jägerstraße länger, als es die Stadtplaner erlauben. Maximal 700 Meter und längstens zehn Minuten, so will es das Bezirksamt Mitte, soll der Bäcker, Fleischer und Lebensmittelladen vom Wohnort entfernt liegen. In der Friedrichstadt das reinste Wunschdenken. „Früher gab es hier wenigstens noch einige HO- oder Konsumläden“, klagt eine Anwohnerin in der Jägerstraße.
Heute gibt es in der ganzen Friedrichstadt zwei Supermärkte. „Meyer“ in der Leipziger und „Ullrich“ in der Wilhelmstraße. Der wurde erst kürzlich eröffnet, „wahrscheinlich“, lacht einer der rund 3.500 Bewohner, „weil die Straße hier vor kurzem noch nach Otto Grotewohl benannt war“. „Vorher“, sagt eine Passantin, „gab es hier nur einen Gemüseladen. Für die ganze Straße. Die jüngeren konnten ja mit dem Auto in den Westen zum Einkaufen, aber für die Älteren war es ganz schwierig.“
Ortswechsel. Hausvogteiplatz. Früher Zentrum des Berliner Konfektionshandels, befriedigt heute einzig „Conny's Container“ den Hunger nach „Waren des periodischen Bedarfs“. Auch am Werderschen Markt kein Käse in Sicht und keine Zahnpasta, einzig die zerrissene Fassade des ehemaligen DDR-Außenministeriums. „Wenn aber erst die Ministerien kommen“, freut sich Falk Jesch von der Wohnungsbaugesellschaft Mitte, „wird sich auch an der Versorgung etwas ändern.“ Voraussetzung dafür sei jedoch, daß Mitte auch mit der Regierung nicht zum reinen Gewerbe- und Dienstleistungsviertel wird. „Deshalb“, gibt sich Jesch ganz als Wohnungspolitiker, „unterstütze ich auch Bausenator Nagel, der bei Neubauten einen höheren Wohnanteil einfordert.“ Weniger optimistisch ist da Hannah Kruse, Stadtteilvertreterin im künftigen Regierungsviertel. „In der Wilhelmstraße“, berichtet sie, „stehen jetzt schon mehrere Läden leer. Da will keiner hin, da können die Wohnungsbaugesellschaften noch so sehr die Mieten senken.“ Und wenn die Regierung komme, erhöhe sich vor allem der Bedarf nach Gewerberäumen. „Da kommt dann allenfalls ein Feinkostladen dazu, mit belegten Baguettes im Angebot, aber noch lange keine normalen, günstigen Geschäfte.“ Doch spätestens dann dürfte das Warensortiment um ein bislang in Berlin nur auf die Baumafia beschränktes Sonderangebot reicher sein: käufliche Politiker. Uwe Rada
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