: Jetzt geht's loo-ooos?
■ Wie funktioniert der Gefühlsstau bei rechten Jugendlichen? Soll man sie in Filmen zeigen oder nicht? Und wieso klingen Techno und schlechter HipHop nach „Rosamunde“? Ein Gespräch mit Klaus Theweleit
taz: Gegen Winfried Bonengels Film „Beruf Neonazi“ hat sich eine seltsame Koalition der „demokratischen Öffentlichkeit“ gebildet. Der Spiegel ortete einen „braunen Werbespot“, Ingrid Strobl in Konkret gibt dem Spiegel ausnahmsweise und widerwillig recht, der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, fordert das Verbot des Films, die hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst Evelies Mayer fordert das Förderungsgeld für den Film zurück ...
Klaus Theweleit: ... die hessische CDU nutzt die Gunst der Stunde und möchte gleich der Filmförderung ganz an den Kragen. Das muß man immer mitbedenken bei den Film-Hickhacks, den Kampf um Geldtöpfe und Förderungshähne ...
... ein hessischer Staatsanwalt schritt ein, der Verleih zog den Film erst zurück ... Berliner und sächsische Gerichte gaben ihn wieder frei ... Im Raum steht die Forderung nach einer „kommentierten Fassung“ ...
„Verbieten“, „Geld zurück“ und „Kommentieren“ sind groß im Trend. Unkommentiert soll kein Schnipselchen Reales ins Fernsehen oder auf eine Leinwand. Zum „Verbieten“ siehe CSU/PDS. Und Geld zurück? Hätten alle gerne: wenigstens die erpreßten Steuergelder für Kohls Mauer-Dekonstruktion.
Sie haben „Beruf Neonazi“ gesehen. Welchen Anlaß gibt der Film zu diesen Attacken.
Keine. Weder für „Verbot“ noch „Geld zurück“, noch „Kommentar“. Ignatz Bubis, dessen öffentliche Arbeit ich sonst sehr schätze, irrt sich hier. Die Ministerin Evelies Mayer ist dabei, eine Dummheit zu begehen: Ihre Forderung schadet nicht nur dem Film, der Filmförderung in der Bundesrepublik, sie kann ärgerliche Folgen haben für das politische Berichten überhaupt.
Erfüllt der Film die Straftatbestände, die Ignatz Bubis ihm vorwirft?
Der Film nicht, der Nazi darin, Ewald Althans, selbstverständlich. Er brüstet sich mit der sogenannten Auschwitzlüge, mit der Ankündigung, er würde gute Nationalsozialisten aus seinen Anhängern machen, mit Hitlergruß et cetera; auch die Behauptung, er, Althans, trage heute „das Hakenkreuz wie einen Judenstern“, verletzt geltende Gesetze. Den Regisseur des Films zu prügeln, wenn die Gerichte einen Althans nicht schaffen oder nicht schaffen wollen, ist aber nicht nur billig, sondern falsch. Was sollte Bonengel tun als Dokumentarist? Nicht zeigen, wie ein Althans funktioniert und tickt? Dann hätte er seine Arbeit schlecht gemacht.
Genau das wird ihm vorgeworfen, nämlich „Distanzlosigkeit“ zu seinem Protagonisten, dem Jungnazi Ewald Althans aus München, und damit „Komplizenschaft“.
Ich habe den Eindruck, sein Film, wie auch Thomas Heises Film „Stau“, der vor einem Jahr ähnlichen Angriffen ausgesetzt war, werden unter anderem deshalb angegriffen, weil sie ihre Arbeit relativ gut gemacht haben. Ein Dokumentarist muß in die Nähe seines Gegenstandes, er muß sich mit ihm einlassen, sonst bekommt er nichts ins Bild von dessen Wirklichkeit. Man bekommt auch nichts, wenn man einem Althans mit „kritischen Einwänden“ begegnet, sobald die Kamera läuft, beziehungsweise man bekommt dann nur das, was die „Tagesschau“ zeigt in ihren Werbespots für das Nachrichtenwesen.
Befinden wir uns in einem untergründigen „Krieg“ der Darstellungsweisen?
In dem befinden wir uns immer. Bonengels oder Heises „Dokumentarismus“, eine genügend geduldige Aufzeichnung von Ereignissen und Personen in Spielfilmbreite und teilweise montiert nach Spielfilmgesichtspunkten, setzt sich ästhetisch/politisch von jenen Fernsehverfahren ab, sowohl „Feature“ als auch Nachrichten, die einerseits jedes Ereignis bis zur Unkenntlichkeit verkürzen oder mit einem sogenannten Kommentar entstellen – gleich: dem Zuschauer „verständlich machen“ –, andererseits aber jedem Politiker, kommentarlos, willfähig sind, wenn er nur hoch genug in einer Hierarchie siedelt. Diese TV-übliche Entleerung des öffentlichen Raums durch permanente Entsinnlichung der Wahrnehmung und die Ausstellung der politischen talking heads als Realitätsersatz kann Ignatz Bubis eigentlich nicht wollen; ich sehe ihn ansonsten auch nicht in dieser Koalition.
Ignatz Bubis hat gesagt, es interessiert ihn nicht, wie „Beruf Neonazi“ gemacht ist. Man soll sich Neonazis überhaupt nicht filmisch nähern. Das verschafft ihnen ein Forum, von dem sie, nach „weitgehendem Konsens“ der demokratischen Öffentlichkeit, fernzuhalten sind.
Ja, und er hat weiter gesagt, die Deutschen in ihrer Mehrheit sind nach wie vor so schrecklich, daß man ihnen einen Althans in Aktion nicht zeigen darf, ohne fürchten zu müssen, daß sie anfällig seien für seine Reden, „nicht reif“ seien für einen kritischen Umgang. Damit könnte er recht haben. Auch das mit dem „Forum“ stimmt; in diesem liegt aber nicht nur die Gefahr der „Verführung“, sondern auch die Chance fundierter Bekämpfung. Verdrängung führt jedenfalls nicht zur „Reife“; das haben wir gesehen.
Was den sogenannten „Konsens der Demokraten“ betrifft: Den haben längst andere gesprengt beziehungsweise sich nie unter ihn gestellt: Kohls, Stoibers, Schäubles demonstrative Untätigkeit bei den Morden von Mölln und Solingen – von vielen beschrieben und beklagt – betraf ja nicht nur die Morde selbst; sie hat, durch das Machtvakuum, das sie offenließ, der rechtsradikalen Gewalt selber eine Stellung im Zentrum der Staatsgewalt eingeräumt. Da konnte Bonengel gar nichts mehr „kündigen“, indem er unzensierte Neonazis im Film zeigt.
Könnte eine kommentierte Fassung des Films einem anfälligen oder unentschiedenem Publikum Orientierung geben?
Ich glaube nicht. Wirkliche Anhänger von Althans sind mit „politischer Kritik“ oder ähnlichem nicht zu erreichen. Ein „Kommentar“ hätte eine reine Alibifunktion. Wie will man Leute „belehren“, die die Vernichtung der Juden in Auschwitz „leugnen“. Sie leugnen sie doch gar nicht; sie wissen bestens Bescheid; die sogenannte Auschwitzlüge ist deren Art zu sagen, daß sie so etwas auch gerne (und noch mal) machen würden. Es geht nicht um wirkliches „Unwissen“ dabei, das mit „Aufklärung“ abzustellen wäre. Das läßt Althans im Film auch erkennen, wenn er seinen versammelten Jungnazis in einer Versammlung Dias von Auschwitz vorführt mit Kommentaren wie: „... der Dümmste erkennt, was man hier sieht, nämlich ein Schwimmbad. Da mußten die Häftlinge also mit Sicherheit nicht, wie man vermutet, Wasserball gegen Krokodile spielen, dort konnten die Leute eben baden, wenn es im Sommer schön heiß war ...“ (har har).
Deutsche Nazis, David Irving oder sonstwer, die Auschwitz „leugnen“, wissen von Auschwitz, und zwar sehr genau. Ich denke, das weiß auch Ignatz Bubis.
Für wen ist der Film gut? Wem „zeigt“ er etwas Zeigenswertes?
Allen, die vom Neonazismus als Tatsache wissen, sich aber nicht recht vorstellen können, oder wollen, was das denn „für Leute“ sind. Man kann die Nazis nicht dadurch bekämpfen, daß man die Nichtnazis daran hindert, sich ein Bild zu machen. Bonengels Film liefert ein Bild. Ich finde es, für mich, dringend notwendig zu sehen, was für ein Typ das ist, der sich offen als Hitlernachfolger darstellt. Gerade von Althans' möglicher Attraktivität muß ich Kenntnis haben. Das tat der Film, und das war nötig.
Ingrid Strobl schreibt dazu in „Konkret“, wer dieses Wissen über die Neonazis haben wolle, habe es auch ohne solche Filme.
Sie sagt aber nicht, woher. Und ich wüßte auch nicht, woher, außer man rennt da ständig hin oder man ist ein sowieso immer schon bestens informierter „Kader“. Mir kommt es so vor, als ob manche Profi-Informierten nicht möchten, daß da jemand anders hinschaut als sie. Die Leute sollen, auch von links her, abhängig bleiben von politischen Berufskommentatoren.
Vielleicht ist das nicht so sehr Absicht als Selbsttäuschung: sich einzureden, man wisse ja Bescheid?
Das ist sehr gut möglich. Ich habe aber den Eindruck, daß insgesamt, weder bei Eltern noch bei Lehrern, ein fundiertes Bild von denen da ist, die momentan als „Jugend“ herumlaufen. Es ist, wider alle Erwartungen, ähnlich wie in den vorhergegangenen Generationen: Wir jetzige Erwachsene verdrängen die eigene Jugend, als hätte es sie nie gegeben, die Notwendigkeit des Ausbruchs, der Übertretung, den Kampf mit dem eigenen Kaputtsein und dem Wunsch, irgendwo angenommen zu werden, und zwar umfassend. Mit einem Mal sind wir alle Oberpriester, die so tun, als stünde das Jugendlichen nicht zu, zumal rechtsradikalen nicht, woher denn?
Die Qualitäten des Films zur Klärung der Lage werden aber bestritten. Er sei potentielle Propaganda. Althans behauptet zum Beispiel, in der Gaskammer von Birkenau sei nicht vergast worden. Die Kritik sagt, er komme damit unwidersprochen davon im Film.
Das wird gesagt, stimmt aber nicht. Ein junger Amerikaner im Film widerspricht heftig. Zählt er nicht? Weil er vielleicht jüdische Eltern hat und die Haare zu einem Zopf gebunden? Man tut ja gerade so, als wäre er nicht da. Er spricht sehr gut für meine Begriffe; allerdings ist er Ausländer und „sieht auch so aus“. Wer einen „guten Deutschen“ an der Stelle gern hätte, ist sicher enttäuscht von ihm.
Es heißt, Althans mache in der Gaskammer die „bessere Figur“, verlasse als „Sieger“ den Platz.
Auch Mariam Niroumand mit ihrem guten Auge hat sich so geäußert in der taz. Aber wieso denn? Der junge Amerikaner zeigt nur genau die Hilflosigkeit, in der jeder von uns sich befinden würde angesichts eines großgewachsenen frechen deutschen Grinsers, der „die Stirn“ hat, am Vernichtungsort selber die Vernichtung zu leugnen. Man gerät ins Stottern vor Unfaßlichkeit und Wut, da der „strafende Blitz“ ja nicht herniederfährt. Althans' O-Ton über die jüdischen Häftlinge: „... alle haben überlebt ... und jetzt kommen die nach Deutschland unser Geld holen.“ Wen das „verführt“, der war schon vorher so, vor dem Film. Und was will man von Bonengel? Daß er uns einen siegenden blonden Helden hier zeigt, der es dem Neonazi in der Gaskammer kräftig gibt?
Mir schien dabei, daß die anwesenden Deutschen in der Gaskammer zum Teil deshalb nicht widersprechen beziehungsweise sich mit ein paar hingeworfenen „Hören Sie doch auf“ und „Unverschämtheit“ begnügen, weil der angeberische Agitator ihnen peinlich ist, „tabu“; sie gehen lieber schnell aus dem Bild, um vielleicht hinterher, „unter sich“, das zu „korrigieren“, Lehrer etwa bei den von ihnen geführten Schulklassen.
Das wäre möglich. Ein Ausdruck derselben Berührungsangst, die sich jetzt öffentlich vor dem Film einstellt, der Faschismus weiterhin als das „Heimliche“, „zu
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Verheimlichende“, der „verbotene Körper“, der aber unentwegt überall wirkt ...
Thomas Heise hat sich in einem Interview zu seinem Film „Stau“, der fünf junge ostdeutsche Rechtsradikale porträtiert, auf ihre Männerphantasien bezogen. Sind jetzige Rechtsradikale, ist ein knapp 30jähriger Mann wie Ewald Althans vom „soldatischen Körper“ her, wie er in den Männerphantasien dargestellt ist, beschreibbar? Vom „fragmentierenden Körper“ her, dessen Psychophysis auf „Explosion“ angelegt ist? Und zeigen Bonengels oder Heises Filme etwas davon?
Durchaus, und nicht zu knapp. Die Gaskammerszene, wie sie bei Bonengel weitergeht, hält zum Beispiel einen der raren Momente im Bild fest, wo man einen Körper vor der Kamera „fragmentieren“, auseinanderfallen sieht: Althans, wieder im Sonnenlicht und bestückt mit dieser obligaten Junta- Sonnenbrille, verunsichert von der Forderung des jungen Amerikaners, er möge doch seine Brille mal abnehmen und ihm in die Augen sehen mit seinem unhaltbaren Gerede, registriert kurz darauf störende Fliegen an seinem Gesicht. Er fühlt sich angegriffen von diesem summenden Gewimmel, er wischt mit der Hand in der Luft herum, sein Mund verzieht sich. „Mir fliegen hier zu viele Tiere rum ... eklig“, sagt er, und dann, mit schiefem, halb grinsendem Blick zur Kamera und der Gaskammer hin: „Die ganzen Läuse ... muß man vergasen ... Flugläuse ... müssen ausgerottet werden“, und grinst.
Das heißt, er spricht positiv von Vergasungen, die erst stattzufinden haben?
Das ist die ganz klare Unterstreichung, daß er die Vergasung erstens kennt und zweitens die offene Formulierung eines Vergasungswunsches: Vergasung ominöser „Läuse“ und meint Typen wie diesen Amerikaner da. Er ist noch viel fieser, als man gedacht hat. Und das sieht man im Film, wenn man hinsieht. Bonengel ist es gelungen, zwei, drei solcher Momente in seinem Film einzufangen; sie rechtfertigen sein Unternehmen und die „Nähe“, die er zu Althans hergestellt hat, vollkommen. Diese Momente bekommt man nicht „so im Vorbeigehen“ mit der Fernsehkamera oder im Talkshowgesäusel mit Brandstiftern und Knüpplern. Mit dessen leichtfertiger Dummheit haben Bonengels und Heises Filme nichts zu tun.
Sehen die Kritiker nicht richtig hin?
Mir scheint, sie sehen nicht richtig hin. Vor Entsetzen vielleicht. Und gehen dann zum Staatsanwalt, einen Film verbieten zu lassen, der etwas zeigt: nämlich diesen Althans als ungeheures Ekel, als bedrohlich fragmentierendes Ungeheuer, das sich mit offenen Tötungsphantasien hinausrettet, wo jemand ihn argumentatorisch in „Bedrängnis“ bringt. Man sieht auch, genau daran anschließend im Film, das typische „Umschalten“ des „soldatischen Typs“ von einem Körperzustand zum anderen: Althans rafft sich zusammen und schreitet davon wie ein angeschlagener Westerner, der sich aufrappelt und in seine Alltagsform zurückbringt. Das Monster schien kurz auf, dann wieder die grinsende Glätte des gestylten New Wave Twens, schicke Jeansjacke oder wehender langer Mantel.
Was meinen Sie mit „vor Entsetzen“ nicht richtig hinsehen? Was wirkt hier so stark, daß man glaubt, die Erscheinung „Althans“ im Film müsse mit Verbot und Zensur aus dem Weg geschafft werden?
Mehreres: einmal das Entsetzen, daß der Typ, wider alles Erwarten, gefährlich ist, ein möglicher Parteienkern. Er beherrscht die zugehörigen Inszenierungen. Hier beginnt das für die sogenannten demokratischen Politiker Entsetzliche: Althans ist in seiner Redegewandtheit und in seiner beweglichen Demagogie kaum anders als ein großer Teil der Politiker in Bonn. Er ist ihnen ebenbürtig; mich erinnert er etwa an den jungen Stoltenberg, auch stark an Stoiber.
Er ist jünger, deutlich „andere Generation“, jetzige. Seine rhetorische Versiertheit, seine modischen Popper-Klamotten, gelbe Jeans-Jacke, weißes T-Shirt, sind werbegestählten Schüleraugen womöglich nicht unangenehm.
Studenten, mit denen ich den Film angesehen habe, fühlten sich vom Typ her teils an Karl-Heinz Rummenigge erinnert, teils an Michael Groß, ein anderer mehr an den salbadernden Johannes Rau. Und ein weiteres „Entsetzliches“: Der Typ rennt so oder ähnlich in jeder deutschen Disco ein paarmal rum, steht an jeder zweiten Theke...
Was können wir „lernen“, wenn wir hinsehen?
Wir können zumindest die Bedürfnisse rechter Jugendlicher nach Ausbruch aus den verschiedenen „Staus“, in denen sie stecken, wahrnehmen und ihre Dynamik erkennen. Und, da wir in der Regel keinen direkten „Zugriff“ auf ihre Lebensverhältnisse haben, so gut wir können, weiter an der Herstellung politischer Zustände arbeiten, in denen sich die Kaputten und Depravierten, die von faschistischen Parolen „Verführbaren“, ihre Ganzheits- und Schönheitsgefühle, die sie brauchen, nicht bei neofaschistischen Neo- Poppern holen müssen.
Die These von den Jungnazis als den „Kaputten und Depravierten“ wird von Claus Leggewie und anderen bestritten; sie seien Mittelständler, Kinder von Gutsituierten, Kinder von „Laissez- faire“-Eltern, die keine Autorität zu achten gelernt haben. Sind es „verwahrloste Mittelständler“? Althans soll, wie man hört, mal Waldorfschüler gewesen sein. Seine Eltern erscheinen im Film als Liberale, jedenfalls vom Inhalt ihrer Reden her.
Diese Beschreibungen sind zum Heulen. Wofür waren denn solche „Klassenanalysen“ in der – näheren oder weiteren – Vergangenheit gut außer für permanente Fehldiagnosen? Es wird einfach „weitergemacht“ in der linken Fließbandproduktion nach Mauerfall und Vorhangsbeseitigung, als wäre nichts gewesen.
Zu Althans' Eltern: Die Mutter überzieht ihn in seiner Anwesenheit mit einer durchgehend psychiatrisierenden Rede: „... schon mit zwei Jahren war er ...“, und dann folgt allerlei Symptomatik. Der Vater ist der Typ, der sich gern reden hört, Sätze wie „Nein, halt, ich wollte aber ganz was anderes sagen“ – um in der momentanen Macht des „am Wort-Seins“ zu bleiben. Nichts von „Laissez- faire“, schon gar nichts von „anti- autoritär“. Man ahnt hier einiges von unausgetragenen Konflikten, bekommt allerdings zuwenig im Film, um wirklich Aussagen über das Eltern-Kind-Verhältnis bei Althans machen zu können.
Was vermissen Sie in der aktuellen „Rechtsextremismus-Diskussion“?
Weder der Begriff der „Psychoklasse“ hat eine Wurzel geschlagen im „linken Spektrum“, noch wird vom Körper und seinen Zerrissenheitszuständen gesprochen als Agens der politischen Bewegungen, mit wenigen Ausnahmen: Tilman Moser würde ich nennen, der sich nicht unbedingt als Linker versteht, oder Michael Rutschky, bei dem ich gerade den Begriff der „halluzinatorischen Wunscherfüllung“ finde; immerhin ...
... halluzinatorische Wunscherfüllung?
Die halluzinatorische Herstellung von Körperganzheitsgefühlen, meist in Verbindung mit Gewaltaktionen, ist der hauptsächliche psychische Mechanismus, mit dem alte wie neue „Faschisten“- Körper sich ihre Übereinstimmungszustände mit sich selber und mit Teilen der „Realität“ hinbiegen. Ganzheitsgefühle, die sie vor dem „Verschlungenwerden“ durch bedrohliche Realität ökonomischer, politischer, familiärer Art rettet. Althans hat Hitlers Methode, den eigenen Leuten das Gefühl von Schönheit und Ganzheit zu geben, gut verstanden uns kopiert diesen Gestus nicht ohne Talent.
Sind die jetzigen Jungnazis-ohne-Frauen-Männer oder Anti- Frauen-Männer im Sinne der „Männerphantasien“?
Beides. Mit Beschreibungen, die von ihrem Mannkörper ausgehen würden, dem gesellschaftlich als überflüssig erfahrenen, familial nur halb-geborenen, halbsymbiotischen Mannkörper auf der Suche nach Ganzheit – religiös: auf Erlösungssuche –, käme man ihnen und ihren Bedürfnissen, Gewaltbedürfnissen wie Heilungsverlangen, erheblich näher als mit dem „klassenanalytischen“ Quatsch der „Schichtenzugehörigkeiten“. Zu Fragen des Körpers und der „Geschlechterdifferenz“ herrscht im Moment allerdings theoretische Funkstille im (groß)deutschen Raum. Die (Theorie- wie Praxis-)Männer genießen, auch hier noch überwiegend narkotisiert, ihren publizistischen Sieg über den „doofen Feminismus“. Dies werden sie am bittersten von allem bezahlen. Es gibt längerfristig keinen anderen Weg aus faschistischen Bedrohungen als den über gestärkte Frauenpositionen in der Gesellschaft und im Privaten. Das zweite wäre auf dieser Basis ein militanter Pazifismus, der „das Soldatische“ sowohl bekämpft als auch ihm politische Auswegfelder anbietet. Das ist ein klares Pendel: Wo die Frauenbewegung und ökologische Militanz in die Wüste geschickt werden, kommen sofort der „soldatische Mann“ und die Bundeswehr.
Im Kursbuch 113 mit dem Titel „Deutsche Jugend“ entdeckte ich eine ähnliche Amnesie: Mit simpelsten Soziologismen wird die „rechte Szene“ angegangen, werden „Erfahrungsberichte“ versammelt, die vom Ochs vorm Berg stammen könnten, aber den Anspruch erheben, von Theoretikern zu sein, die die deutsche Lage blicken...
Ein lehrreiches Buch. Ein komisches auch. Der beste Satz darin stammt von Ernst Uhrlau und lautet: „Das Skin-Sein wird vornehmlich in der wärmeren Jahreszeit und besonders an den Wochenenden ausgelebt.“ Das ist wirklich großartig. Und dann weiter nichts dahinter als ein Ruf nach den Gerichten. Papa Staat soll der Gute sein und den Rechten den Arsch versohlen.
Soll er nicht?
Sicher soll er. Er scheint ja auch gerade Anstalten zu machen. Aber juristische „Prügel“ anstelle eigener Wahrnehmung, eigenen Denkens und eines Minimums an offenen Augen? Der „rechte Rand“, der sich mausig macht, soll zurück unter seinen Deckel, ins Unsichtbare und sich nicht im Fernsehen zeigen dürfen. Dann wären sie schon zufrieden und könnten wieder tagesordnen, am Computer Wörter pflücken, pflaumenreif.
Peter Schneider im Kursbuch entdeckte das biologische Aggressionspotential „männlicher Pubertierender“ am Grunde der jungen Faschisten jetzt ...
... echt toll. Der Film von Thomas Heise ist sehr aufschlußreich an diesem Punkt. Die jungen Männer, die er zeigt, verstehen sich als Lebensform „Mann“; Lebensform, der aber keine Chance gegeben wird, wirklich „Mann“, großer Mann, „richtiger Mann“ zu werden. Also suchen sie „Kameradschaft“, „Männergemeinschaft“, gemeinsame Gewaltaktionen als „Kitt“ für ihren Männerverein. Einer von ihnen spricht von der Skin- Jugendbewegung als eben diesem Kameradschaftsclub, bei dem „das Politische“ erst mal im Hintergrund bleibt; entscheidend ist der Bund. Sie sind in geradezu haarsträubender Weise den jungen Männern ähnlich, die Anfang der zwanziger Jahre aus ihrer gesellschaftlichen Aussichtslosigkeit heraus in die Freikorps hineinliefen, dann in die SA; in Riefenstahls Parteitagsfilm „Triumph des Willens“ sieht man sie im morgendlichen Männerlager, dasselbe Lächeln, dieselben Frisuren – Depravierte, Kaputte, aber aufbruchsbereit. „Jetzt geht's loo-ooos!“, hören wir von ihnen. Heises Film endet genau mit dieser Selbstbeschwörung: „Wir sind schön ... und wir können nichts dafür“, so einer der Kurzgeschorenen aus dem Off.
Fehlt denen nur jemand, der ihnen das bestätigt, die „politische Führung?“
... die Althans gern liefern würde, wie Bonengel zeigt. Althans beschließt seine Reden ebenso: „Ihr seid die Besten. Ihr müßt euch zeigen!“ Das ist der zentrale faschistische Organisationsgestus. Er ist nur zu bekämpfen, indem die dafür Anfälligen die Schönheits- und Ganzheitsgefühle anderswo geboten bekommen und finden.
Peter Schneider nennt auch den Umgang von Talkshowmoderatoren mit rechten Schlägern und darüber hinaus die tägliche Gewaltladung der elektronischen Medien als gesteigerten Antrieb und Anfeuerung der Gewaltaktionen.
Moderatoren haben mit gezündelt, ohne Frage. So wie auch Gewaltbilder bei gewaltbereiten Typen mit niedriger Hemmschwelle mit Sicherheit ihre Rollen spielen – ähnlich wie die Ansteckung durch Althans bei fast voll entflammten jugendlichen Vor-Nazis. Aber: „Männliche Pubertierende plus Gewalt im Fernsehen plus antiautoritäre Eltern gleich brennende TürkInnen in Solingen und Mölln“, das ist mehr als nur amnestisch, das ist dummfrech, genauer: ein gegen das Fernsehbild gerichteter Sündenbock-Rassismus, der nicht viel anders als beim Biertischler, vom Druck des Ungelösten, das „der Mensch im Kopf nicht aushält“, erlösen soll.
Sehen Sie, wie Bubis, die Deutschen als so etwas wie „demokratisch übertünchte“ Wesensfaschisten? Die jetzigen Radikalen als Kinder ganz „normaler Eltern“ demnach, wie Leggewie es faßt?
Über das „Normale“ könnte man reden, wenn man es nicht automatisch als Synonym für „das Gute“ und „Behütete“ und im Prinzip „Gewaltlose“ versteht. Was ist das „Normale“ in Deutschland? Was sind die 60 Prozent Strauß-WählerInnen in Bayern gewesen und an die 50 Prozent Kohlisten die ganze schöne republikanische BRD-Zeit hindurch? Süssmuth-Rechte? Wir leben ständig an diesem Abgrund einer Republik, deren Wähler wie Spitzenpolitiker zu einem großen Teil aus Zwangsdemokraten bestehen. Nur: Als „Normalität“ war das unter demokratisch verordneter Kontrolle, stammtischreguliert oder paramilitärisch versteckt im Wald; durch die Mauerbeseitigung und den offenen Sieg des Westens im „Volkskrieg“ ist das Potential nun offen und zeigt sich auch so. Neu daran ist die Erscheinungsweise, nicht die Substanz.
Raul Hilberg zieht in seinem neuen Buch „Täter, Opfer, Zuschauer“ die Schlußfolgerung: „Das Böse ist das Normale.“
Ja, der entscheidende Unterschied dabei zum „Normalen“, wie es bei Claus Leggewie als völlig nichtssagende „Kategorie“ auftaucht, ist: Das Normale in Hilbergs Beschreibung klammert weder das „Dämonische“ aus noch die wissende, „bösartige“ Planung; es enthält diese. Täter wie Opfer wie Zuschauer des Holocaust taten, was sie immer tun, sagt Hilberg: Die Töter töteten oder halfen dabei; die Opfer waren Opfer, das heißt, sie liefen nicht weg, denn „mich trifft es ja nicht“ – „mich braucht man ja“; und die Zuschauer schauten zu, denn sie „trifft“ es ja auch nicht. Alle zusammen sind die „Normalität“, besonders die deutsche. Der „Täter“ dabei ist keineswegs der kleine, graue Herr (Eichmann) am Schreibtisch, der unbeteiligt seinen Namen unter Akten kritzelt, sondern der Herr, der weiß, was er tut: töten. Das ist seine Normalarbeit als Eisenbahner, Oberförster, Reisebüroangestellter, SS-Mann oder „Neonazi“. Bei Bonengel blitzt dies alltäglich „Dämonische“ in Althans sehr klar auf, es erscheint seine „tötende Seite“ als einer der Dauerzustände seiner Normalität. Die „demokratische Öffentlichkeit“, wenn man das so nennen will, reagiert darauf „geschockt“. Sie will nicht gestört werden in ihrer Talkshow-Anästhesie und selbst auferlegten Amnesie.
Lesevorschläge?!
Gerne. Kate Millet, „Entmenschlicht“, ein Buch über Folter und Männerkörper; Christopher Browning: „Ganz normale Männer“, über die Hamburger Polizeibrigade, die die Chance hatte, sich
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an Judenerschießungen nicht zu beteiligen, und mehrheitlich ausschlug; Hans Safrian: „Die Eichmann-Männer“; Raul Hilberg nannte ich bereits...
Sie sprechen in den „Männerphantasien“ beim „soldatischen Mann“ vom „fragmentierenden“ und „explodierenden“ Körper, der vom Drang getrieben ist, einerseits tabula rasa um sich zu machen, andererseits sich in „Ganzheitsgebilde“ zu fügen. Wo ist das politisch zu sehen? Welche jetzigen Vorgänge beschreibt das Ihrer Meinung nach?
Die Wahrnehmungszustände „blutiger Brei“, „leerer Platz“ und „Black Out“, die ich als die drei zentralen Formen faschistischer halluzinatorischer Körpererhaltungspraxis beschrieben habe, sehe ich an mehreren „Fronten“ an der Arbeit. Der „leere Platz“, die „mehrheitsfähigste“ Form der Körpererhaltung des rechten Mannes, ist so etwas wie die Zentralphantasie der sogenannten Asylpolitik und Asylgesetzgebung der letzten Jahren gewesen. Mit nach außen verlagerter Mauer in der Gestalt „Festung Europa“. Bei den jungendlichen Skins in der Form: „Jetzt kommen wir“ – „Straße frei“ – Ausländer/Asylanten raus“ – „Linke weg“ und so weiter. Auch bei den Kursbuch-Männern beherrscht der „leere Platz“, die amnestische Phantasie ...
... der „blutige Brei“...
... ist politisch-praktisch auferstanden in den Baseballknüppeln, die anstelle der früheren Gewehrkolben zum Schädeleinschlagen getreten sind; dann in Wortbildungen wie dem „Aufklatschen“, „in den Rinnstein beißen“ und ähnlichen. „Ausländer“ werden zwar genannt an erster Stelle, aber für die „Aufklatscher“ ist alles, was „unten“ ist oder sein soll, Ausland: Obdachlose, Ausländer, bedrohliche Weiblichkeit, Kinder...
... der „Black Out“, die kriegerische Form der Mann-Mann- Verbindung?
Der „Black Out“ plus Vermischung mit anderem Männerkörper beschränkt sich im Moment vorwiegend auf den Alkohol und die Stampfmusikräusche; die rechte Landdisco dient für viele im Moment als eine Art Schützengrabenvorlauf; für andere, wie Althans in Bonengels Film es ausspricht, ist es der Krieg in Bosnien. Althans serviert ihn als eine Art „Spanischer Bürgerkrieg“ für Rechte im Moment: „20.000 Westeuropäer sind da unter Waffen.
Die Brandsätze in den Häusern ausländischer Deutscher ...?
Das Feuer spielt seine alte häßliche Rolle als faschistisches Ausbruchssignal für das Körpereingesperrte. An psychischer Signalwirkung sollen die brennenden Häuser dem brennenden Reichstag und der Bücherverbrennung gleichkommen.
Wir haben dreißig Jahre mit der Theorie gelebt, daß „der Faschismus“ nicht verschwunden sei, daß er aber „so, wie er war“, in der Naziform nicht „wiederkehren“ könne. Etwas daran war falsch. Reine Verdrängung?
Sicher auch, eine verdrängende Hoffnung. Und ganz verständlich. Mir war der „kalte“, der indirekte, der System- oder Design-Faschismus des hier leichtfüßig siegenden (und woanders tötenden) Spätkapitalismus auch „lieber“, wenn man so sagen darf, als der trampelnde, direkt zuschlagende, offene, blutige, jetzt herumlaufender Keulenschwinger. Daß dieser wieder hervorgezogen, „belebt“ worden ist, ist aber nun eine Tatsache. Das meiste Historische ist, infolge der psychischen, ethnischen und ökonomischen Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten der Kulturen auf dem Erdball, wieder hervorziehbar. Ich nenne das die „technische Reproduzierbarkeit von Geschichte“. Wir möchten das liebend gerne vergessen, verdrängen, da die Kraft der Linken alleine, wie immer, nicht ausreichend ist, dies irgendwie „unter Kontrolle“ zu bekommen.
„Aufbruch“ und „kämpferische Vereinigung“ der rechten Jugendlichen geschehen in Heises Film überwiegend in der abendlichen Disco. „Böhse Onkelz“, „Störkraft“, andere Musik als Anfang der dreißiger Jahre und auch nicht einfach „rechte Musik“ ...
... von der Elektrifizierung her ist es eine Art Rock. Vom Tanzen her ein elektrifiziertes Stampfen. Musikalisch ziemlich dasselbe, was auch „links“, was „autonom“, was bei den „Technos“ gehört wird. Nur die Texte unterscheiden sich. Was bei denen einen „neutral“, Here we go! heißt und ähnlich, heißt bei den Rechten: „Schickt sie in die Wüste“, „Schickt sie ins KZ“. Und links wird ein bißchen „schwärzer“ getanzt, hiphop-singularistischer.
Aber von der Musik her ...
... ist das strukturell nicht unähnlich der Situation Anfang der Dreißiger. Hitlerjugend und Jugendliche der Arbeiterbewegung sangen ihre verschiedenen Texte zu weitgehend gleichen Rhythmen (Marsch) und ähnlichen Melodien. „Brüder zur Sonne“ ist musikalisch gleich „Horst Wessel-Lied“. Manchmal waren die Melodien sogar identisch.
Aber „Störkaft“ ist nicht gleich „Culture Beat“ oder „2 Unlimited?
Ich weiß nicht. Vom Rhythmus her war ich mir nie so sicher, was das ist. In vielen New-Wave-Musiken ab Ende der Siebziger, in etlichen Punk-Sachen, im schlechteren HipHop, in vielem Technogehämmer oder diesem Holzhackerwumm, der auf Tanzböden unter dem Namen „Memphis“ läuft, höre ich vor allem ein aufgepapptes und im Tempo etwas angezogenes Bierzelt. Ich höre ohne Schwierigkeit ein gebrülltes „Rosamunde“ durch, wenn's hochkommt, die klappernden Kosakenhacken. Ich kann mir nicht helfen. Meine Körperrhythmen sagen dazu: Ist das nicht auch faschistisches Zeug? Das ist jedenfalls nicht Rock, das ist nicht Jazz, schon gar nicht ist das „schwarze Musik“. Ich höre es überall. Ich höre es bei uns zu Hause aus dem Jugendlichenzimmer, das ist der Beat, der im Moment durchhaut, bei allen. So wie die Schuhe sich nur an den Farben der Bänder unterscheiden.
Eine Art unbewußter „Rechtsruck“ der gesamten Jugendkultur, der „Widerstandskultur“? Es gibt in Bonengels Film beispielsweise einen Schwarzen, der den Faschismus preist, ...
So weit würde ich nicht gehen. Aber den „Rechtsruck“ als eine Begleiterscheinung der klar sichtbaren Remaskulinisierung der offiziellen Kultur seit dem Fall der Mauer sehe ich schon. „Nationales Denken“ bringt immer einen starken Zug zur Erhöhung offener gesellschaftlicher Gewalt mit sich. National werden heißt, zumal in Deutschland, immer: die Gesellschaft stärker hierarchisieren, aus „negativen Symbiosen“. Hierarchien bauen, das Prinzip von Jüngers „Arbeiter“. Wir erleben lauter gesteigerte Gewaltvorgänge jetzt, wie Leute aus der Arbeit rausfliegen, besonders Frauen, wie mit bestimmten Lebenszusammenhängen tabula rasa gemacht wird, mit der DDR- wie mit der BRD-Geschichte, wie umgesprungen wird mit Behinderten ...
Die Gewalt der Feuer- und Knüppelskins ist, neben ihrer eigenen Dynamik, auch der – willkommene – Ausdruck all dieser „zivilen“ Gewalttätigkeiten, weil er von der staatlich/polizistischen, der industriellen wie der steuerlichen Gewaltschraube ablenken kann und vom laufenden Krieg „Jeder gegen jeden“. Aber der Begriff der „Nation“ selber ist violent-männlich und braucht ein Oben und ein Unten. Wo er auftaucht in Deutschland, werden Zügel angezogen, und zwar kräftig.
Was tun?
Nicht auf der Ebene „großer Politik“, von der reden wir hier nicht. Man kann tun, was man sonst auch tut. Jede/r einzelne muß sehen, wo und wie er/sie das „Faschistische“ bekämpfen kann. Das ist in der Regel eine indirekte Angelegenheit, nicht ein Kampf an „Fronten“ und in Straßenschlachten, sondern in der eigenen Umgebung, eine Lebensbemühung, die, wenn sie ruhig weitergeht, bei vielen und nicht gleich aus den Latschen kippt über das vorhersehbare Ansteigen rechter Gewalt im deutschen sogenannten Einigungsprozeß, nicht gering zu veranschlagen ist. Immerhin etwas, das „wir“ haben. Aktionen? Ich höre, in Schweden gibt es 5.000 privat versteckte abgewiesene Asylbewerber. Und in Südbaden gibt es vielleicht zehn. In ganz Deutschland? Nicht viele. Das ist beschämend. Ein verstärktes Sich-Rühren wird unumgänglich sein, um es mal so zu sagen. Ich bemerke eine Art Anästhesie, die sich erst langsam löst, auch bei mir selbst. So sollte dies Zeug einfach nicht wieder auftauchen, wie es aufgetaucht ist. Aber nun ist es aufgetaucht, und nun hilft nicht der Ruf nach dem Deckel von Pandoras Büchse.
Wichtiger als Aktionen gegen das offen organisierte Nazitum, Verbote und ähnlichem wäre das eigene Gegen-Leben und die Kontrolle der faschistischen Tendenzen weiter oben in der Staatshierarchie?
Entscheidend bleibt „die Straße“, was sich dort entwickelt, wer dort was in Gang setzt und beeinflußt; die Straße und die an ihr liegenden Spiel-, Denk-, Arbeits- und Wohnorte: ein autonomes Jugendzentrum in einer mitteldeutschen Kleinstadt oder kein autonomes Jugendzentrum; ein Kino oder kein Kino; wer es ist, der einem ein paar Bücher in die Hand drückt, und welche Bücher das sind und welche Platten, welche Filme. Die Tanzorte. Welche Mädchen, welche Jungen sexuell erreichbar sind, erreichbar bleiben oder werden. Auch heutige Jugendliche finden nicht zu einer lebbaren Sexualität, ohne den Wahnsinn zu streifen. Es sterben schließlich nicht nur Skin- Opfer am hiesigen Leben. All das Leben oder Nicht-Leben in den schon vorhandenen einzelnen Enklaven, auch den rechten, wird wachsen und sich weiter „vom Ganzen“ isolieren. Lauter halbautonome Kleinstaaten, hier eine Redaktion, da ein Filmerkollektiv, da ein paar Musiker, n + 1 WGs, Motorradstaaten, da eine Fabrik für Ökologie, ein Zusammenschluß örtlicher Polit- oder Kulturagenten zu einem Arbeitskreis, zu einem Frauencafé, Männercafé, Kneipen, Discos, einem Infoladen, einem Teeladen. Gibt es mehreres davon in einem Stadtteil, ändert sich seine Infrastruktur; ändert sie sich erheblich, stellen die Enklavenstaaten den Bürgermeister. Zum Staatschef wird's nicht langen, so nicht oder so nicht. Aber die Enklavenstaaten strahlen aus auf die sogenannte Mitte und auf die einzelnen Familien wie auch auf die Schulen, und zwar nicht wenig, wie wir die letzten zwanzig Jahre gesehen haben.
Und die Arbeitslosigkeit? Staatliche wie industrielle Maßnahmen zu grundlegendem Abbau sind nicht zu sehen. Das West-Ost- Gefälle gewinnt an Tempo und negativer Radikalität.
Arbeit ist natürlich noch wichtiger als eine funktionierende „Straße“ beziehungsweise ihre Voraussetzung. Arbeit ist, besonders in Deutschland, nicht nur eine ökonomische Kategorie, „Arbeit“ ist auch der effektivste und eingefahrenste Vorgang der psychomotorischen Gewaltabfuhr in der Gesellschaft. Je „verordneter“ eine nationale Arbeitslosigkeit dann ist, also ökonomisch im Prinzip „unnötig“, um so schlimmer ist es. Denn das heißt, Staat und Industrie nehmen sie in Kauf, setzen nicht unbedingt auf hiesige Investitionen, auf Umschulung, Ausbildung, andere Arbeitsverteilung und damit auf partielle Zivilisation; die könnten entsprechend andere Pläne haben für die Abschöpfung der nicht in den Arbeitsprozeß integrierten Arbeitskraft: Mobilisierung des Gewaltpotentials der nichtarbeithabenden Jugendlichen etwa in Richtung „Ordnungshüter der Nation“, Mobilisierung der anderen „Freigesetzten“ in Richtung Blockwartstum, und, für alle, in Richtung Bundeswehr, Richtung Osten, Richtung Süden, zu den vielen unbehausten, rohstoffgesegneten Steppen und unbefriedigten Märkten hin, der im Leeren torkelnde Gewaltdeutsche vor dem „Ruf des lockenden Vakuums“. Gefährlich.
Wie sehen Sie in dieser Auseinandersetzung die Möglichkeiten der Antifa-Gruppen?
Ich kenne die Antifa nicht sehr gut, ihre mögliche Differenziertheit. In der Gewaltfrage stehe ich aber sicher woanders. Erste Eigenschaft deutschen Innen- wie Außenlebens muß in meinem Augen der Verzicht auf physische Gewalt sein, das ist so etwas wie ein politisches Erbe der Naziherrschaft, die Verpflichtung auf einen generellen Tötungsverzicht als „Konsens der Demokraten“. Gewaltverfahren wirken in den Deutschen, in jedem von uns, bis jetzt weiter auf jeder denkbaren Ebene. Die faschistische Gewalt der Elternkörper ist überwiegend unbehandelt, sozusagen unterderhand, in die Körper der Nachgeborenen eingegangen. Das ist der Grund für Ignatz Bubis berechtigte Befürchtungen zur anhaltenden „Verführbarkeit“ der Deutschen durch Neonaziparolen. Gewaltverfahren sind längst nicht genügend erkannt und im „selbstverständlichen Bewußtsein“ verankert, was die Alltagshandlungen angeht. Und die Nicht-Gewalt- Verfahren, besonders im Umgang der Geschlechter, sind nur ungenügend entwickelt.
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