■ Charakter und Perspektive des Aufstands in Chiapas
: „Wenn ihr nicht auf uns hört.“

Carlos Monsivais, 1938 geborener mexikanischer Schriftsteller, Essayist und Journalist, der sich kritisch mit den die mexikanische Gesellschaft zementierenden Mythen auseinandersetzt.

Zuletzt erschien die Anthologie „Entrada libre“ (1987).

taz: Wie schätzen Sie die „Zapatistische Befreiungsarmee“ (EZLN) ein? Handelt es sich um eine Guerilla, die in der Tradition der zentralamerikanischen Guerilla der siebziger und achtziger Jahre steht, handelt es sich um etwas grundsätzlich Neues, oder hat der peruanische Schriftsteller Vargas Llosa recht, der sagt, die Zapatisten seien eine anachronistische und reaktionäre Bewegung?

Carlos Monsivais: Noch wissen wir nicht, wer sie sind. Ich vermute, daß da maoistische Elemente der siebziger Jahre mit von der Partie sind. Diakone und Katechisten der Theologie der Befreiung spielen auch eine Rolle. Ferner denke ich, daß es politisierte Gruppen der indianischen Dorfgemeinschaften gibt. Das alles sind nur Vermutungen. Wir wissen nicht, wie viele es sind. Die Angaben schwanken zwischen viertausend und zehntausend. Wir wissen nichts über ihre politische Entwicklung. Ich glaube aber, daß die zapatistische Bewegung mit dem Modell der salvadorianischen oder guatemaltekischen Guerilla nicht viel gemeinsam hat, weil es sich – soweit den Äußerungen der Zapatisten zu entnehmen ist – nicht so sehr um revolutionäre Vorstellungen, sondern vielmehr um soziale und ethnische Forderungen geht. Es kann sich um eine revolutionäre Gruppe handeln, aber jedenfalls sind es andere Revolutionäre als in El Salvador oder in Guatemala. Es geht ihnen nicht so sehr um die Übernahme der Macht, sondern sie sagen einfach erst mal: Stop! So geht es nicht weiter. Basta! Die Sympathie, auf die die Zapatisten in der öffentlichen Meinung gestoßen sind, hat dann auch mehr mit einer nostalgischen Erinnerung an die mexikanische Revolution von 1910 zu tun als mit einer Hoffnung auf eine revolutionäre Guerilla wie in El Salvador oder Guatemala.

Geht es also um eine Guerilla oder um einen „indianischen Aufstand?“

Es gibt ganze indianische Gemeinschaften, die sich im Aufstand befinden. Präsident Salinas hat das zunächst geleugnet, aber jetzt hat er es eingesehen. Wenn 90 Prozent der Aufständischen Indianer sind, dann ist das ein indianischer Aufstand.

Bislang hat es die herrschende Klasse in Mexiko immer geschafft, die Opposition zu integrieren, zu marginalisieren oder auszuschalten. Wird es ihr auch diesmal gelingen?

Das wissen wir noch nicht. Aber bis jetzt ist es ihr nicht gelungen, die Zapatisten auszuschalten – weder militärisch noch politisch, noch sozial. Auf allen drei Ebenen ist sie gescheitert. Sie konnte die Guerilla militärisch nicht ausschalten. Sie wurde politisch nicht mit ihr fertig, weil es im ganzen Land einen Aufschrei gab, einen psychischen Aufstand, einen politischen Widerstand, der dann auch jeden Versuch, die Bewegung über eine schrankenlose Repression auszuschalten, unmöglich machte und der sich mit der Guerilla in der Benennung der Ursachen der Rebellion einig war. Und sie konnte sie sozial nicht besiegen, weil deutlich wurde, daß die Zapatisten in den indianischen Dorfgemeinschaften einen starken Rückhalt fanden.

Welche Folgen wird der Aufstand in Chiapas für die politische Zukunft Mexikos haben?

Zum erstenmal seit sechzig Jahren gibt es in der mexikanischen Politik eine sehr aktive moralische Komponente. In allen ernsthaften Analysen wird nun den Rebellen zugestanden, daß das moralische Recht aufgrund der brutalen Ungerechtigkeiten und der Auswirkungen des Neoliberalismus auf ihrer Seite steht. Die erste politische Folge des Aufstandes ist die radikale Destruktion des Mythos von der Effizienz des Neoliberalismus. Die zweite Folge ist, daß etwas, wovon man gedacht hat, daß es in der Politik keine Rolle mehr spielt, sich wieder zu Wort meldet: die Würde. Wo der Kandidat der PRI (der Wahlkampf hat letzte Woche begonnen) auftaucht, sieht er Plakate, auf denen steht: „Wenn ihr nicht auf uns hört, wird es ein weiteres Chiapas geben.“ Chiapas ist landesweit zum Inbegriff von Protest geworden. Drittens: Die ganze Macht des PRI-Staates hängt von einem Netz von Komplizenschaften ab, einem Beziehungsgeflecht zwischen staatlichen Funktionären, lokalen Parteigrößen und Kaziken, das nun in Chiapas nicht mehr funktionierte. Es entstand so zum erstenmal ein Raum, wo diese Logik nicht griff. Viertens: Es gibt einen klaren Willen, mit der Tradition der Straflosigkeit zu brechen. Man will in Chiapas nicht länger hinnehmen, daß die Regierenden, die Großgrundbesitzer, diejenigen, die für die Abholzung der Wälder und den Ruin der Wirtschaft verantwortlich sind, die sich illegal Land aneignen und das feudale System aufrechterhalten, ungestraft die Gesetze brechen können.

Wo sehen Sie im aktuellen Konflikt zwischen Regierung und zapatistischer Bewegung eine Kompromißlinie?

Die Regierung ist in einer schwierigen Lage. Wenn sie in Chiapas nachgibt, sieht sie sich möglicherweise im ganzen Land mit ähnlichen Forderungen konfrontiert. Ich weiß nicht, was sie bei den Unternehmern durchsetzen kann. Die Unternehmer warnen ja deutlich davor, in Chiapas nachzugeben. Wahrscheinlich wird man eine Autonomie-Regelung finden und den Unternehmern signalisieren, sie bräuchten sich nicht zu sorgen, das alles gelte nur für indianische Gebiete.

Die Zapatisten fordern freie und saubere Wahlen. Ist das realistisch?

Ja, da haben sie gute Aussichten, viel zu erreichen. Ein Wahlbetrug wie 1988 ist heute kaum mehr möglich. Das Risiko wäre zu hoch.

Wird es also international überwachte Wahlen geben?

Vor allem werden Repräsentanten aller politischen Parteien an allen Urnen des Landes zugelassen werden müssen. Das wäre dann für Mexiko eine absolute Neuigkeit. Man darf nicht vergessen, daß Chiapas 1988 den höchsten Anteil von PRI-Stimmen hatte: 92 Prozent. Die beiden Wahlbezirke – es gibt landesweit dreihundert –, in denen Präsident Salinas am meisten Stimmen bekam, waren Ocosingo, die Stadt, die heute im Zentrum der Revolte steht, und Palenque, am Rand des Kriegsgebiets. Dort gab es einen unverschämten Wahlbetrug. Die PRI tendiert zum Wahlbetrug. Der gehört quasi zu ihrer Essenz. Aber nun sind die Bedingungen für einen Wahlbetrug wie 1988 nicht mehr gegeben.

Wird sich die PRI selbst verändern? Wird sie sich von einer Staatspartei zu einer Partei unter andern transformieren?

Nein, diese PRI ist dazu nicht fähig. Die PRI ist am Ende.

Glauben Sie, daß infolge des Aufstands die Militärs, die sich in den dreißiger Jahren aus der Politik zurückziehen mußten, sich nun wieder stärker politisch einmischen?

Nein, ich sehe das nicht. Doch so genau kennt ja hier die Militärs niemand. Es ist im übrigen das erste Mal, soweit ich mich erinnere – und das sind fünfzig Jahre –, daß die Armee offen kritisiert wird, schriftlich, nachlesbar, und zwar von allen Seiten, vor allem wegen der Menschenrechtsverletzungen. Es gab Fälle von Folter, von Hinrichtung, an sich nichts Neues, aber es ist, als ob das Land plötzlich nun seine Stimme wiedergefunden hätte. Die Armee war immer eine unberührbare Institution. Jetzt ist sie es nicht mehr. Interview: Thomas Schmid