Vom Raster zum Vogelnest

■ Eine Retrospektive des Architekturbüros Behnisch & Partner im Berliner Martin-Gropius-Bau

Das Stuttgarter Architekturbüro Behnisch & Partner hat sich wenig auf die Balancen des Ausgleichs eingelassen. Im Gegenteil. Bauliche Paradigmenwechsel gehören gewissermaßen zum Programm. Der Prozeß der Planungen reicht von der überschaubaren Ordnung des Rasters, das sich in die Unendlichkeit fortsetzen könnte, zur ungeordneten und flüchtigen Zusammenballung der Energie. Die Fachhochschule Ulm, die 1961 aus vorgefertigten Bauelementen in ungebrochener Rechtwinkligkeit zusammengesetzt wurde, liefert eine Chiffre für den Beginn: sachlich, nüchtern, funktional. Über dreißig Jahre später, 1993, steht die achitektonische Figur des Vogelnests: eine stachelige, scheinbar labile und unkontrollierte Anordnung von Konstruktionen längs der Treppenanlage im Foyer des neuen Plenarsaals in Bonn.

Durch diesen Spannungsbogen – von der linearen Ordnung zur Auflösung, vom Purismus der Konstruktion zur neuen Symbolhaftigkeit des Materials – spiegelt die Geschichte des Büros eine Entwicklung vom Erbe des Konstruktivismus zum Prinzip baulicher Offenheit. Trotz der ästhetischen Brüche, deren Parallelität zu den Gelenkstellen eines gesellschaftlichen Wertewandels sich unschwer erkennen läßt, zeigen sich dabei Kontinuitäten. Für die Retrospektive des Büros im Martin-Gropius- Bau, die nach den Präsentationen in Stuttgart und Graz erweitert und ergänzt wurde, haben die Ausstellungsmacher und Architekten Andreas Uebele und Peter Jertschewske (beide aus dem Büro Behnisch & Partner) den Schauraum in ein Architekturbüro verwandelt. Die Pläne sind auf Reißbretter aufgezogen, Modellvarianten erzählen vom Experiment, vom Prozeß und von der Ideenfindung einer jeden Planung. Die Prinzipien von Collage, Kleinteiligkeit und dem Aufbrechen geschlossener Formen, die sich in der vierzigjährigen Geschichte des Büros als Leitmotive für die Arbeit mit dem Raum herausgebildet haben, wiederholen sich in der spielerischen Inszenierung. Zugleich gerät die sympathische Unordnung auf der engen Empore der Berlinischen Galerie aber auch zu einer bedrängenden und überquellenden Materialfülle, die ein wenig das Abstellen im Depot vorwegnimmt. Der Charme des Experimentierens sowie die Atmosphäre des intimen Planens und Verwerfens verschwimmt.

Der chronologische Aufbau der Ausstellung zeichnet den langen Weg zu der am Ende so impulsiv wirkenden Öffnung der Formen nach. Ein Fries mit kleinen Fotografien hält eine Chronik von über hundert Bauwerken fest, die mit den Schulen der fünfziger und sechziger Jahre beginnt. Günter Behnischs frühe Architekturen, die er nach seinem Studium an der TU Stuttgart gemeinsam mit Bruno Lambert realisierte, waren zum großen Teil mit vorgefertigten Bauelementen ausgeführt, die trotz der vorfabrizierten Elemente von expressiver Variabilität zeugen. Für diese Phase steht exemplarisch die Fachhochschule Ulm (1961), ein schematisches Glas- und Betongewitter, das den Bauwirtschaftsfunktionalismus feiert. Doch in den Rastern ihrer Fassade schreibt sich nicht nur die spröde Sachlichkeit fort. Vielmehr jagen die perspektivischen Zeichnungen den Blick durch lange Gänge und suggerieren durch Weite und Geschwindigkeit die Leichtigkeit der sechziger Jahre. Das serielle Element der Vorfertigungstechnik verleiht so den flachen, langgezogenen Gebäuderiegeln einen Dynamismus, der andere städtebauliche Maßstäbe formulierte als die heutigen Sehnsüchte nach bergenden Stadträumen. Mit der Arbeit am Olympiapark München (1967 bis 1972) kündigt die Austellung den ersten Sprung, den Wechsel in den baulichen Spiegelbildern der politischen und technischen Wirklichkeiten an. Die Entwurfsskizzen von Carlo Weber spülen alles Kantige, Geradlinige, Rechtwinklige fort: Weiche Formen ergießen sich in den Raum. Markanter ließ sich der Abstand zu den Normen der Vorfertigungstechnik nicht signalisieren. Die ersten Modelle der Olympialandschaft wurden bezeichnenderweise in Sand geformt. In dieser veränderten Methode, ein Raumkonzept zu entwickeln, scheint sich der Wechsel vom Konstruktivismus zu Fluxus in der Kunstgeschichte, oder von der Technik-Euphorie des Atomzeitalters zu den sozialen kommunikativen Räumen der folgenden Architekturen Behnischs anzudeuten. Gemeinsam mit dem Landschaftsarchitekten Günther Grzimek entwickelte das Büro auf dem stillgelegten Flugfeld im Münchener Norden ein Gelände, auf dem sich die Architekturelemente an künstliche landschaftliche Formen mit einer differenzierten Topographie anlehnen. Funktional notwendige Gebäudeteile verschwinden in Geländemulden oder unter der Erde; die Trennlinien zwischen innen und außen werden nicht in Mauern gezogen, sondern weitmöglichst in Gerüstkonstruktionen und Glas aufgelöst. Konstruktive Elemente liegen offen, das Zeltdach als Gerüsthimmel unter allerdings massigen Trägern hängt wie eine Wolke über dem Sportfeld. Doch die Annäherung der Architektur an die Landschaft bringt zugleich eine Verkünstlichung der Natur mit sich, die durch die Negation jeder geometrischen Ordnung „Ursprünglichkeit“ mimt – und doch Kulisse bleiben muß. In den Schulen und der Sporthalle, die zwischen 1973 und 1982 auf dem „Schäfersfeld“ in Lorch entstanden, setzt sich das Wechselspiel zwischen Architektur und Landschaft auf eine andere Weise fort. Um innerhalb des Gebäudes die Kommunikation unter Schülern und Lehrern zu stärken und ihnen nach außen die Welt zu erschließen, entstand die Idee eines Zentralbaus über kreisförmigen und dreieckigen Grundrissen. Die Erfahrung im amorphen Bereich erlaubte Behnisch nun, die geometrischen Raumfolgen quasi in Bewegung zu setzen. Die Architekturen erscheinen wie geborstene Schollen, unter denen sich die Schulräume als gleichwertige Orte ausdehnten. Als hätte sich das Skelett eines Schalentiers nach außen gedrückt, umgeben Träger und das Gestänge für die Sonnensegel die zweigeschossigen Schulbauten. Sie verselbständigen sich zu einer Ästhetisierung der konstruktiven Leistungsfähigkeit, die schließlich im „Hysolar Forschungs- und Institutsgebäude“ der Universität Stuttgart (1987) ihren Höhepunkt erfährt.

Inszeniert wird dort scheinbar der Testfall: wie weit das einzelne Element aus der Reihe tanzen kann, ohne den funktionalen Zusammenhang zu brechen. Die Betonung des Provisorischen und von losen, assoziativen Formverbänden bedient sich dabei Container- Elementen, die aus einer Architektur auf Abruf stammen. Sollten die Raumstrukturen der Schulgebäude noch die mögliche Teilnahme aller an einer Kommunikation gewährleisten und verbildlichen, so zersplittert dieser verbindliche Raum jetzt in Elemente, die von ihren Benutzern jeweils in eine neue Balance zu setzen sind.

Die Selbstdarstellung des Büros endet mit den dadaistischen Collagen und Modellen für den neuen Bonner Bundestag. Altvertraute Motive wie etwa die Geländer- und Vogelnester, die immer häufiger als raumstrukturierende Elemente dort auftreten, wo trennende Wände verschwunden sind, geben auf den Großfotos eine eigene dramatische Vorstellung. Zugleich zeugen sie von der differenzierten Planungsphilosophie des Büros, das ein Gebäude immer mehr auflöst in seine einzelnen egalitären Räume, funktionalen, konstruktiven und dinglichen Faktoren.

Günter Behnisch hatte bei dem Plenarsaal mit seiner fast zwanzigjährigen Planungszeit, den Verwerfungen und Neuschöpfungen die Kategorie der Veränderung mit zur Darstellung gebracht. Alte Systeme scheinen gesplittert, andere auf merkwürdige Weise wieder zusammengefügt. Der Bau wirkt zerklüftet und doch aus einem Guß. In seinem Zentrum ruht das intime Rund des Plenarsaals – als Schwerpunkt im baulichen Dekonstruktivismus. Die schier endlos verzögerte Baugeschichte, die erruptiven Kostenexplosionen und der kaum nach der Fertigstellung geplante Umzug des Regierungssitzes von Bonn nach Berlin haben die Rezeption des Gebäudes überschattet. Daß es fast zu einem Symbol für eine Eulenspiegelei der bundesrepublikanischen Demokratie wurde, hat die Architektur nicht verdient. Machtdemonstration und Repräsentanz haben unter den inhaltlichen und funktionalen Kriterien, nach denen das Büro Behnisch & Partner seine Aufgaben angeht, glücklicherweise nie die dominante Rolle wie bei vielen anderen zeitgenössischen Architekten gespielt.

Das mag damit zu tun haben, daß nostalgische städtebauliche Imponierwünsche traditioneller Blockverfechter nie und private Investoren selten zu den Auftraggebern des Büros gehörten. Erst in den neunziger Jahren beteiligte sich Behnisch an Wettbewerben für Banken und Finanzhochhäuser – mit mäßigem Erfolg. So ist der Tanz der Hochhäuser, deren Etagen wie zu Paketen gebündelt sich um die eigene Achse drehen, allein in den Modellvarianten in den Vitrinen zu sehen. Andere künstliche Unikume wirken wie die zerlegte Mechanik einer Uhr, die, zum Bild gewandelt, eine Ausstellungswand der Berlinischen Galerie hinaufklettern. Die teils geöffneten, teils geschlossenen Kreisbahnen dokumentieren Statikvarianten, die „Behnisch & Partner“ für einen mehrgeschossigen Ring eines „schwebenden“ Gebäudes entwarf, das einen Erweiterungsbau der Deutschen Bundesbank (Frankfurt/Main, 1989/1992) fassen sollte. Der Hochhaustanz auf Stelzen, die hochgestemmten Konstruktionen sowie die runden Zahnräder lassen am Ende doch Zweifel an der Aussagekräftigkeit der Modelle aufkommen. Doch selbst als Kunstfiguren assoziieren sie mehr Architektur als die Klötze heute.

Katrin Bettina Müller

und Rolf Lautenschläger

Die Ausstellung ist im Berliner Martin-Gropius-Bau noch bis zum 29. Februar 1994 zu sehen.