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Geordnete Verhältnisse, glänzende Aussichten

■ Rußlands Außenminister Andrej Kosyrew seit heute zu Besuch in China

Berlin (taz) – Andrej Kosyrew, Rußlands Außenminister, wird sich, wenn er heute zum Besuch in Peking eintrifft, in einer wohlgeordneten, von Konflikten kaum beschwerten Beziehungs-Landschaft bewegen können. Seit dem spektakulären Staatsbesuch des russischen Präsidenten Boris Jelzin im Dezember 1992 prosperiert der Handel, nimmt langsam, aber stetig die Zahl sowjetischer Atomtechniker und Weltraumingenieure zu, die in der Volksrepublik – mit oder ohne Segen der russischen Regierung – ihr Brot verdienen und vermessen Geometer-Teams beider Länder 3.000 Kilometer gemeinsamer Grenze. Die diplomatische Idylle wird nur unwesentlich durch kleinere Zwischenfälle gestört. Rußland, mit China sonst stets einer Meinung im Weltsicherheitsrat, nahm vor der UNO gegen die chinesischen Menschenrechtsverletzungen Stellung. Und russische Schiffe wurden von chinesischen Antischmuggeleinheiten aufgebracht. Ein bedauerliches Mißverständnis, wie Chinas Außenministerium versicherte.

Längst haben die gegenseitigen Beziehungen sich von jeder ideologischen Beimischung freigemacht. Was in Rußland passiert, ist nach Meinung der chinesischen Regierung beziehungsweise der von ihr kontrollierten Publizistik innere Angelegenheit des Landes. Während zu Zeiten des Augustputsches 1991 in halbinternen Dokumenten der chinesischen Führung noch offen für Jenajew, Kriutschkow et alia Partei ergriffen und bedauert wurde, daß das Notstandskomitee nicht sofort den Verräter Jelzin verhaftet hatte, war während des Oktoberputsches von Sympathie für Chasbulatow oder Ruzkoi nichts mehr zu spüren. Wo noch von der kapitalistischen Restauration in Rußland die Rede ist, da mit innenpolitischer Stoßrichtung: Unterstützt die eigene Regierung, oder China wird – wie vormals die Sowjetunion – im Chaos versinken.

Chinas Politik gegenüber der Sowjetunion beziehungsweise Rußland folgt seit Ende der 70er Jahre, seit der erneuten Machtergreifung Dengs, einer konstanten Richtlinie. Das Land benötigt für die Entwicklung der Ökonomie stabile internationale Rahmenbedingungen. Jetzt, da die Konflikte um Kambodscha, Vietnam, tendenziell auch um die zwei Koreas beigelegt und die Grenzfragen geregelt sind, verbindet China und Rußland die gemeinsame Furcht vor ethnisch oder religiös begründeten „Unruhen“ in den asiatischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Von der chinesischen Seite gab es deshalb kaum negative Reaktionen, als im Oktober 1993 Rußland mit seiner neuen Militärdoktrin kaum verhüllt seinen hegemonialen Anspruch für das Territorium der Ex-Sowjetunion geltend machte. Schon bei seinem Staatsbesuch in China Ende 1992 hatte Jelzin angekündigt, die „westlich-atlantischen“ Beziehungen zu den „asiatischen“ ins Gleichgewicht bringen zu wollen. April 1993 wurden dann die „Grundlagen der außenpolitischen Konzeption der russischen Föderation“ beschlossen, in denen „die Verantwortung Rußlands zur Stärkung von Stabilität und Sicherheit auf dem Territorium der früheren UdSSR“ statuiert wurde. Zum „nahen Ausland“, auf das sich seit 1993 die russische Außenpolitik konzentriert, gehören auch die Ex- Sowjetrepubliken und heutigen GUS-Staaten Kirgisistan, Kasachstan und Tadschikistan. Obwohl China alle GUS-Staaten sofort anerkannte, wird die Vormachtstellung Rußlands in der asiatischen Grenzregion kaum auf chinesische Kritik stoßen, wenn sie wirklich funktioniert. Eine „asiatische“ Kurskorrektur der russischen Außenpolitik, die nicht mit imperialen Wahnvorstellungen verbunden ist (wie bei der starken, antiwestlichen „eurasischen“ Denkschule in Rußland) kann China nur willkommen sein – vor allem aus ökonomischen Gründen.

Da Japan auf absehbare Zeit wegen der ungelösten Kurilen- Frage als Motor für die Entwicklung des russischen „Fernen Ostens“ ausscheidet, wird Kosyrew für eine Ausdehnung des Handels vor allem zwischen den drei chinesischen Nordprovinzen und den angrenzenden russisch-sibirischen Regionen werben. Der Anteil der drei genannten Provinzen am gesamten Handelsvolumen zwischen China und Rußland erreichte 1992 bereits 70 Prozent, bewegte sich aber auf der Linie chinesische Konsumgüter gegen russische Rohstoffe. Fehlende Verkehrswege und Brücken (zum Beispiel über den Amur) sowie sonstige infrastrukturelle Schwächen bremsten eine noch schnellere Entwicklung. Das größte Hindernis aber besteht in der chinesischen Devisenschwäche, die den Handel in die archaische Form von Ware gegen Ware zwängt. Hier bildet der russische Zentralismus nach wie vor die Hauptbarriere. Im Gegensatz zu China können in Rußland Regionen und Städte keine Verträge ohne den Segen der Zentrale abschließen. Christian Semler

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