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Nur ein weiterer Fall im giftigen Alltag der Nordsee

■ Die Tütchen bringen viel Gefahr auf einmal, aber die ständige Vergiftung der Nordsee durch industriell verseuchte Flüsse und regelmäßige Containerverluste ist haarsträubender

Selbst die Vögel fallen auf den glänzenden Schein herein, halten die Beutel mit dem orangeroten Pflanzenschutzmittel Apron Plus, die die Menschen an der Nordseeküste seit Tagen in Aufregung versetzen, für etwas Besonderes. „Es ist nicht auszuschließen, daß sich etwa Silbermöwen von der glänzenden Verpackung anziehen lassen, den Inhalt aufnehmen und dann zugrunde gehen“, so Klaas- Heinrich Peters von der Bezirksregierung in Oldenburg. In den Niederlanden sind nach Greenpeace- Angaben schon die ersten vergifteten Vögel angespült worden.

Vom giftigen Alltag der Nordsee unterscheidet die Tüten, die jetzt zu Hunderten und Tausenden an den Urlaubsstränden anlanden, die Tatsache, daß man sie sieht. Denn über Bäche und Flüsse gelangt relativ unbemerkt auch ein Teil der insgesamt 180.000 Tonnen Pestizide, die jährlich in den Nordseeanrainerstaaten eingesetzt werden – 30.000 Tonnen allein in der alten Bundesrepublik – in die Nordsee und schwimmt dort, zusammen mit Tonnen Arsen, Blei und Cadmium, umher – ohne glänzende Verpackung, aber mit tödlicher Wirkung.

Haupthersteller ist die deutsche Chemieindustrie. Sie produzierte 1991 u.a. über 120.000 Tonnen Pestizide und erzielte damit einen Umsatz von 5,18 Milliarden Mark. Drei Viertel davon haben Bayer, Hoechst und Co ins Ausland verkauft – wohin das Teufelszeug naturgemäß denn auch transportiert werden muß. Auf der Nordsee schippern so jährlich fünf- bis zehntausendmal Frachter mit giftiger Pestizidladung hin und her. Auch die Giftköche der Schweizer Firma Ciba-Geigy haben das Pestizid, das jetzt in Beutelchen angeschwemmt wird, per Schiff an ihre Tochterfirma in Nigeria verschickt. Dort sollte die Mischung aus einem Insektizid und zwei Fungiziden als Beizmittel für Hirse in einem Kleinbauernmodellprojekt der Weltbank eingesetzt werden.

Doch in Nigeria kamen die Tütchen mit dem orangeroten Insektentod nie an. Vor der französischen Kanalküste gingen sie dem Frachter „Sherbro“ der großen französischen Privatreederei Delmas Vieljeux über Bord. Das Schiff, das unter zypriotischer Flagge fuhr, verlor Anfang Dezember bei hohem Seegang gleich 88 seiner 800 Container, mindestens fünf davon mit Ciba-Geigy- Pestiziden, vier mit Apron Plus.

Was tödlich für afrikanische Insekten sein sollte, bringt jetzt den Tod an die Nordsee. Schon 82 Milligramm des Hauptwirkstoffs Furathiocarb reichen aus, um eine Ratte zu töten, heißt es im Bundesumweltministerium. Wenn man das (mit allen Zweifeln, die solchen Umrechnungen anhaften) auf den Menschen überträgt, bedeutet das 4,8 Gramm für einen Durchschnittsmann – und damit den Exitus.

Der Verlust von Schiffsladungen ist so ungewöhnlich nicht, weltweit gehen alle paar Wochen Container verloren. Der SPD- Bundestagsabgeordnete Dietmar Schütz kritisierte die noch immer „gravierenden Sicherheitsmängel“ beim Gefahrguttransport: „Auf unseren Meeren ist der Giftskandal längst Alltag.“ Allein auf der Nordsee würden jährlich 9,6 Millionen Container transportiert, davon 480.000 mit gefährlichem Inhalt. Im September hatte ein Frachter in der Biscaya Sprengzünder verloren. Allein beim Bundesamt für Seeschiffahrt und Hydrogeologie wurden von 1988 bis 1992 insgesamt 184 verlorengegangene Container registriert. Ungewöhnlich sind aber die Umstände. Normalerweise gehen auch bei schwerer See nur einzelne Container über Bord. Eigentlich sollten solche Verluste sofort detailliert gemeldet werden. Auch wird versucht, solch gefährliche Fracht wieder einzufangen. All das scheint diesmal nicht passiert zu sein.

Seit Juni 1992 gelten im internationalen Seerecht neue Regeln für Transporte gefährlicher Güter in Containern. Pestizide wie Apron Plus werden nach Angaben aus dem Bundesumweltministerium in der Stoffklasse 6.1. eingestuft, für die die Internationale Gefahrgutverordnung zur See (IMDGC) festlegt, wie sie gestapelt werden müssen, welche Begleitpapiere ausgefüllt werden müssen und daß sie das Signet „Marine Pollutant“ gut sichtbar tragen müssen.

Darauf warten, daß sich die Ladung verdünnt

Genützt hat das in diesem Fall nichts. Einer der Container mit dem „Vorsicht Gift“-Schild schwamm wochenlang durch den Ärmelkanal, bevor ihn die belgischen Behörden Anfang Januar aus den Augen verloren. Einen Peilsender im Giftcontainer, wie ihn Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) jetzt lautstark fordert, hätte es in dem Fall wirklich nicht gebraucht. Schließlich wußten die Behörden in Belgien und Frankreich wochenlang von der schwimmenden Zeitbombe. Einmal abgesoffen, ist ein zehn Meter langer Container auf dem Nordseegrund schwer zu finden, vielleicht würde der Peilsender helfen, jetzt den leeren Container zu finden.

Mit der Suche nach verlorengegangenen Containern haben es die nationalen Behörden traditionell nicht eilig. „Von denen geht ja normalerweise keine Gefahr aus“, sagt Richard Kohn von der International Maritime Organisation, einer UNO-Tochter, die fürs Seerecht zuständig ist. „Die haben auch Sorge wegen allzuviel falschen Alarms“, berichtet Barbara van der Hook von Greenpeace Niederlande. So läßt man die meisten Container eben am Meeresboden verrosten und wartet darauf, daß sich die Ladung verdünnt.

Wie bei den fünf Containern, die nach einem Bericht der französischen Tageszeitung Libération im Mai 1990 dem Frachter „Hansa Carrier“ auf einer Pazifik-Route verlorengingen. Container verloren, Ladung verloren, nichts zu machen. Doch dann, im Dezember 1990, tauchten sie rund eintausend Kilometer vom Ort des Unfalls wieder auf: 40.000 Nike-Sportschuhe bescherten dem US-Bundesstaat Washington eine hochwertige Turnschuhpest.

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