: Kinderleicht
■ Musikhalle: „Wundergeigerin“ Midori spielte ihr Instrument aus den Kniekehlen
Wir waren zu spät gekommen. Alfred Schnittkes Suite im Alten Stil hörten wir nur durch die geschlossene Saaltür. Es klang wie Bach oder Händel. Nichts Heutiges. Pure Postmoderne. Vielleicht wollte die Geigerin Midori zeigen, daß sie auch langweilig sein kann. Als sie dann Bartoks Erste Violinsonate spielte, war es jedenfalls aufregend.
Eine kleine, schmale Person im schwarzen Trägerkleid mit langen schwarzen Haaren spielte da Geige aus den Kniekehlen heraus, als Körpersprache. „Ich habe Geige spielen gelernt wie andere Kinder sprechen lernen“, erzählte die 23jährige Japanerin, die heute mit einer Selbstverständlichkeit Geige spielt mit der andere Leute sprechen. Sie hat nie Wunderkind sein wollen und ist doch bis heute eins. Bogen, Geige und Körper scheinen da ein geschlossenes System zur Produktion schöner Schallwellen; der Bogen treibt den Ton vor sich her, wenn Midoris Geige zu großem Gesang anhebt wie am Ende des zweiten Satzes von Brahms' gefühl-voller Sonate A-Dur op. 100; er zerhackt die Zeit in leidenschaftlichem Spiccato, wie in der Zigeuner-Thematik des Dritten Satzes von Bartoks schwierig ragendem Stück.
An Intonation denkt niemand keine Sekunde, so sicher ist das alles; bei aller Fiktion von Kinderleichtigkeit zeigt sie immer wieder auch, etwa in Messiaens geigerischem Vielerlei Theme et Varitions für Violine und Klavier oder abschließend in Saint Saens wunschkonzertgestähltem Rondo capriccioso op.28 wie gut sie weiß, was sie da geigt. Über viele Phrasierungseinheiten hinweg kann sie lange Bögen musikalischen Sinns spannen, ihr Sinn für Architektur ist ausgeprägt. Nie verfällt sie in schieres Brillieren, nie legt sie es - wie so viele Geiger etwa bei Brahms - auf emotionale Kraftmeierei an. Sie hat den Bogen raus. Sie hat's nicht nötig. Und sie hat viel Geschmack. Das Quentchen Tiefe, das vielleicht noch fehlt, wird irgendwann kommen, wenn sie sich weiter so wach und selbstbewußt durchs Leben fiedelt.
Stefan Siegert
Lesen gegen das Patriarchat
Auf taz.de finden Sie eine unabhängige, progressive Stimme – frei zugänglich, ermöglicht von unserer Community. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen