: Ganz normale Entwicklungsphasen Von Klaudia Brunst
Seit geraumer Zeit haben meine Freundin und ich ein Erziehungsproblem: Unser Hund nascht nämlich. Nicht etwa die Schokolade vom Fernsehtischchen oder das Filet aus der Küche – in unseren eigenen vier Wänden konnten wir uns bisher behaupten –, aber auf der Straße ist unser Hund der Schnüffelkönig. Keine Minipizza, die er nicht auf zehn Metern entdeckt, keine achtlos weggeworfene Peperoni, die er nicht aufspüren würde. Und man ahnt ja gar nicht, was die Leute alles so wegwerfen. Vom einfachen Pausenbrot bis zum kompletten Gyros-Menü, vom Schokoriegel bis hin zu ganzen Apfeltorten – unter Deutschlands Gebüschen lagert die Lösung für das Welthungerproblem.
Das Schnüffelphänomen sei entwicklungsbedingt durchaus normal und zumeist eine Folge nährstoffarmer Ernährung, belehrte uns das Hundehandbuch. Nach regelmäßiger Verabreichung von abgekochtem Blättermagen stelle das heranwachsende Tier den Unratfraß zumeist umgehend ein. „Na, wenn's weiter nichts ist, das läßt sich doch machen“, freute sich meine Freundin, klappte das Buch zu und spazierte gutgelaunt zum Tierfutterhändler.
Als sie mit zwei blutverschmierten Tüten wiederkam, wollte ich erst die Tür gar nicht öffnen. Der Flur stank, als mache die Müllabfuhr eine verspätete Weihnachtssammlung. „Es soll besser werden, sobald der Blättermagen im Topf ist“, meinte meine Freundin und verzog sich auf die Toilette. Ihr Magen wollte so lange nicht mehr warten.
Mit Todesverachtung boten wir die dickflüssige Suppe dem Hund zum Fraß an. Aber er muß wohl unsere feine Nase geerbt haben: Kopfschüttelnd verweigerte er die Nahrungsaufnahme und folgte beleidigt dem Kater unters Bett.
Eine erfahrene Züchterin empfahl drastischere Methoden: Immer wenn der Hund etwas vom Boden aufklaube, sollten wir ihn kräftig ausschimpfen, dann am Nacken packen, durchschütteln und ihn schließlich auf den Rücken werfen – eine klassische Unterwerfungsgeste. Nach ein, zwei Wochen habe der Hund seine Lektion sicher gelernt. Wir haben es einen Tag lang versucht. Als aber noch am gleichen Abend ein Herr vom Tierschutzverein vor der Tür stand, um dem Hinweis aus der Nachbarschaft nachzugehen, erschien uns der getriebene Aufwand im Verhältnis zu seinem Nutzen dann doch zu unverhältnismäßig. Fortan ließen wir den Hund schnüffeln.
Die Lösung kam unerwartet. Auf einem seiner Patrouillengänge entdeckte der Hund einen Kinderschnuller im Gebüsch. Und ganz anders als sonst schluckte er das Fundstück nicht sofort herunter – wie am Vortag den Luftballon und letzte Woche den Sektkorken – sondern nuckelte den ganzen Spaziergang lang selig darauf herum. Binnen kürzester Zeit wurde das Sauggerät sein ständiger Begleiter. Nur zu den beiden Hauptmahlzeiten – und wenn er mal bellen mußte – legte er das Teil kurz zur Seite. Ansonsten hatten wir unsere Ruhe – die entwicklungsbedingte Naschphase schien überwunden.
Seit gestern allerdings hat der Hund offenbar beschlossen, dem Schnulleralter entwachsen zu sein. Im Gebüsch fand er einen Becher „Fruchtzwerge“. Nun ist es wieder vorbei mit der Ruhe. Er hält sich jetzt für ein kleines Genie und geht jeden Abend eine Stunde lang auf unserem alten Klavier spazieren.
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