■ Die „FAZ“ veröffentlichte Brandts Notizen von 1974: Überflüssige Sorgen
Nachdem die klassischen Ministerien in Verruf geraten und die Klassiker des Marxismus-Leninismus aus den Straßenverzeichnissen ostdeutscher Städte getilgt sind, besteht ein dringender Bedarf nach erneuter politischer „Besetzung“ des Begriffs der Klassik. Diese Lücke erkannt zu haben ist das Verdienst Rudolf Scharpings. Auf der Euro-Listenkonferenz seiner Partei zum Fall Seebacher-Brandt Stellung nehmend, ernannte der Kanzlerkandidat die Zeit des Triumvirats Brandt-Wehner-Schmidt in den 60er und 70er Jahren zur klassischen Periode der deutschen Sozialdemokratie. Die Funktion dieser „Klassifizierung“ ist klar. Über Klassiker diskutiert man nicht, man verehrt sie. Zu dieser Abwehrstrategie gegenüber Frau Seebacher-Brandts publizistischer Offensive tritt als flankierende Maßnahme die Behauptung, die von der FAZ veröffentlichten Brandt-Notizen enthielten nichts, was nicht schon längst bekannt sei. Womit erwiesen sei, daß die Veröffentlichung ausschließlich dazu diene, das Wahljahr 1994 mit einer hübschen kleinen Schlammschlacht zu eröffnen.
Während Scharpings Kanonisierungsversuch nur das unstillbare Verlangen der SPD nach autoritären Persönlichkeiten ausdrückt, also wirklich nichts Neues bietet, kann das von der Veröffentlichung der „Notizen“ nicht so ohne weiteres behauptet werden. Zwar trifft zu, daß der Historiker Arnulf Baring in seinem 1982 erschienenen „Machtwechsel“ wesentliche Details von Brandts „Tagebuch“ verarbeitet hat. Auch die „Erinnerungen“ Brandts von 1989 zeugen von seinem Mißtrauen gegen den Weggefährten und deuten manches an, wenngleich in der üblichen, umwölkten Form. Aber der handfeste Verdacht Brandts, Wehner habe, mit der SED-Führung zusammenspielend, seinen Sturz bewirkt, findet sich weder in den „Erinnerungen“ noch in Barings Werk, noch sonst irgendwo. Dieser Verdacht ist, unabhängig davon, ob er begründet ist, ein neues, zeitgeschichtliches Faktum.
Was wird durch dieses Faktum bewiesen? Nichts, wovor die SPD sich fürchten, nichts, wovor sie ausweichen müßte. Für die Erhärtung der Konspirationsthese geben die „Notizen“ nichts her. Was als Anhaltspunkt hätte dienen können, etwa die vier „Kommunikationen“ Wehners mit Honecker im Mai 1974, kann als aufgeklärt gelten. Und der Hinweis des Historikers Timothy Garten Ash in der FAZ vom 26.1., noch sei Wehners Nachlaß nicht ausgewertet und noch hätten nicht alle Zeitzeugen gesprochen, ist als Warnung an die Zunft der Zeitgeschichtler zu verstehen. Eine allgemeine Verdachtshypothese wird dadurch gerade nicht lanciert. Wohl aber zeigen die „Notizen“ des Sommers 1974 Zorn, Verbitterung, Selbstgerechtigkeit und den Versuch, die Verantwortung für die eigenen Schwächen abzuwälzen – alles Reaktionen, die jedem von uns nachvollziehbar sind und die nur dazu beitragen, unsere Sympathie für den Menschen und Staatsmann Brandt zu verstärken. Arnulf Baring glaubt allen Ernstes, die Veröffentlichung der „Notizen“ beschädige die Reputation seines Idols. Welches Heiligenbildchen Willys muß er im Herzen tragen?
Keine Diskussionsverbote! Wenn die FAZ, wenn Brigitte Seebacher-Brandt tatsächlich die Absicht hätten, „Mosaiksteinchen“ zu liefern, die unseren historischen Blick weiten und das erreichen, was man Verstehen nennt – bitte! Das Problem ist nur, daß die Publikationsstrategie der FAZ und verwandter Organe im Timing wie in der Argumentation auf billige Verdachtspsychologie hinausläuft. Noch in seinem Leitartikel vom 26.1. versucht Eckhard Fuhr in der FAZ, der Konspirationsthese eine, wenngleich absurde, Pointe abzugewinnen: Schmidt sei, weil ein starker Charakter, von der SED-Führung gegenüber dem labilen Brandt favorisiert worden. Verehrter Rudolf Scharping: vor diesem Dunkelmänner(frauen)tum in kritisch-aufklärerischer Maskerade brauchen Sie wirklich keine Angst zu haben. Christian Semler
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