: Schlaf für immer, weisser Mann!
■ Zum 5. Geburtstag des Mojo-Clubs: Me'shell Ndegeocello
Wenn da nicht der Lesestreifen für die Computerkassen der Kaufhäuser wäre, könnte es ein Bild von Francis Bacon sein. Ein Gesicht windet sich als amorphe, entmenschlichte Masse über einen blaß olivgrünen Hintergrund. Die goldenen Halsketten, an Nase und Ohr befestigt, werden zum Gefängnis. Ein Gesicht verfielfältigt sich durch Mehrfachbelichtung. Es ist das Gesicht von Me'shell, einer afro-amerikanischen Musikerin, der eine einzige Erscheinung nicht genug ist.
So präsentiert sich die New Yorker Künstlerin auf dem Cover ihres Erstlings Plantation Lullabies. Sie zelebriert ihre innere Zerissenheit, um dann Wiegenlieder zu singen? Poetry mit Rhythmus, gesprochene Verse, die von Musik getragen und beschleunigt werden, wäre die bessere Beschreibung. In „If That's Your Boyfriend (He Wasn't Last Night)“ demonstriert sie die Offenheit einer selbstbewußten Frau, befördert von einem trockenen, etwas in die Bläser getauchten Funk. Eine geschmäcklerische Eingängigkeit, die man erwarten durfte, denn ihre Wiegenlieder sind die ersten weiblichen Töne auf Madonnas Maverick-Label.
Doch daß Me'shell mit ihren Wiegenliedern nur einlullen möchte, um in der Folge umso wirksamer zu sein, wird spätestens mit „Shoot'n Up And Gett'n High“ klar. In diesem Aufruf zur „Revolution gegen rassistische Institutionen“ wünscht sie sich den „weißen Mann für immer schlafend“. Im nächsten Lied greift die Agitatorin aber wieder ganz unschuldig in die Dreadlocks ihres Freundes. Immer dann wenn man glaubt ihr auf der Spur zu sein, zieht sie einem den Boden unter den Füßen weg.
Bevor sie Platten aufnahm, studierte die inzwischen 25jährige Debutantin Malerei und vergleichende Literaturwissensschaften in Washington. Dabei hat sie gelernt, mit Ausdrucksformen zu spielen, sie gegeneinander auszuspielen, wenn es sein muß. Diese Fähigkeit überträgt sie umstandslos auf Musik. Doch ganz unbelastet geht sie auch hier nicht zu Werke. Nach einigen Erfahrungen in der Go-Go-Szene zupfte sie bei Steve Coleman und Caron Wheeler den Bass, arbeitete mit Living Colour und Arrested Development zusammen. Ein Sammelsurium unterschiedlicher Arbeitsfelder, das sie mit wechselnden Personen (dem Saxophonist Joshua Redman, Wah Wah Watson an der Gitarre und DJ Premier an den Plattentellern) für Plantation Lullabies auferstehen läßt.
Greg Tate, ein wichtiger schwarz-afrikanischer Kultur- und Musikkritiker schrieb Me'shell eine poetische und umfassende Neudefinition von HipHop. Denn Me'shell versteht HipHop als Medium für Inhalte oder wie sie es in „Shoot'n Up And Gettin High“ ausdrückt als „Signifying“: der schwarzafrikanischen Sprachfigur, die über Wortspiele einen Inhalt umkreist. So wie ihr Kopf auf dem Cover um die eigene Achse zu kreisen scheint.
Volker Marquardt
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