piwik no script img

Frankenstein war ein Konzertpianist

■ Harold Barreiro ist auch einer: Er macht Stücke für 58 Ameisen und liebt v.a. das verstimmte Klavier / Heute abend spielt er beim „Piano Project“ im Kito

Eine Zuhörerin kam ganz begeistert vom Klo zurück und meinte, sie hätte zum ersten Mal das Wasser in der Toilette gehört. Das hat dann doch selbst den Pianisten beeindruckt. Harold Barreiro hat bei der Frau erreicht, was er wollte: Wahrnehmung. Dazu tritt er auf, setzt sich an den Flügel – und wartet. Das kann manchmal sehr lange dauern, „aber die Leute können das ja sonst nicht erleben“.

Was die Frau jedoch aufs Klo getrieben hat, war wohl noch etwas anderes gewesen. Das Ameisenfestival vielleicht, ein Stück von 58 Ameisen, für Klavier, Metall, Glas, Stimme und Empfänger. Denn was Harold Barreiro da an seinem Flügel praktiziert, das ist Installation, Experiment und Performance zugleich. Alles Worte, die Barreiro eigentlich nicht mehr benutzen mag, selbst aber keine anderen findet. „Ob ich mit der Badewanne oder Wasser oder Drähten oder meiner Stimme arbeite, es geht immer um Klang, also um Musik.“

Musik, das war für den 1958 in Harlem/ New York geborenen Puertoricaner zunächst mal die Musik von Händel oder Bach gewesen, „religiöse Sachen, etwas anderes gab's bei uns im College gar nicht. Nie hörte man von Cage, Alois Zimmermann oder Schönberg.“ Dann kaufte sich der Musik- und Kunststudent aus Neugierde ein paar Platten von Karlheinz Stockhausen.

Harold Barreiro ging nach Köln (obwohl er nicht wußte, daß Stockhausen dort war) und begann Sachen zu machen, die seine Eltern nicht mehr verstanden. Er griff zu Säge, Milchflaschen und Metallrohren und erforschte das Innen- und Außenleben des Klaviers. Heraus kam ein Klopfen, ein Schlagen, ein Zirren, ein Zittern, unerhörte Musik, und wenn Barreiro heute noch Bach, Cage, Monteverdi, Wagner oder die Einstürzenden Neubauten mag, dann deshalb, weil sie wie er mit Klangmasse hantieren.

„Ich will gar nicht unbedingt etwas anderes, etwas Schräges machen“, sagt er. „In Italien zum Beispiel hat mir jemand ein total verstimmtes Klavier in die Hand gedrückt, und ich fand es unheimlich schräg, daß 200 Jahre lang das Klavier gestimmt gespielt wurde.“ Die Folge waren Barreiros Verstimmte Werke (BVW). Von Protest oder Provokation will Harold Barreiro aber nichts wissen, obwohl sein Stück Frankenstein war ein Konzertpianist („Da bin ich am Klavier verrückt geworden“) schon die Leute schocken soll.

Ihn interessieren beim Komponieren die Menschen und das, was ihn selbst belastet, der Mißbrauch an Kindern etwa, oder Ertrinken ohne Risiko oder Mit manchen Intelligenzien ist es nicht sehr angenehm.

Daß seine schrillen Töne die Leute enervieren, wenn er sie auch noch penetrant wiederholt, das ist ihm gerade recht. „Ich leide ja auch bei meinen Konzerten, in letzter Zeit habe ich regelmäßig Rückenschmerzen. Das ist genauso, wie wenn ein Mensch leidet bei seiner Entscheidung, ob er im Konzert sitzenbleiben oder lieber rausgehen soll.“

Barreiro spielt, bis sich die Leute eingestehen, daß er nicht mehr aufhört. Man lauscht und wartet, aber es ändert sich nicht. Und das ganz nach Stimmung des Komponisten. Deshalb wird kein anderer je seine Stücke spielen können. Es gibt auch gar keine Noten dazu, höchstens Skizzen, Bilder oder Texte.

Wie Barreiro seine Metallteile im hölzernen Kito-Dachgeschoß einsetzen wird, hat er noch nicht entschieden. Auf jeden Fall gibt es heute abend zu seinem Konzert nicht wie einst in Köln eine inszenierte Milchflaschenexplosion vor dem Haus. Silvia Plahl

KITO, Alte Hafenstraße 30 / Vegesack, 20 Uhr

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen