: VW-Modell oder Konfrontation
Die IG Metall will bei den diesjährigen Tarifverhandlungen die Jobs retten, die Arbeitgeber Kosten sparen. Die plausibelste Lösung, Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich, aber mit Jobsicherheit, ist noch nicht in Sicht.
Einen Tag vor Beendigung der Friedenspflicht im Tarifkonflikt der Metallindustrie wägten die beiden Tarifkontrahenten ihre Worte sorgfältig ab. Die IG Metall forderte von den Arbeitgebern „endlich ein seriöses Angebot“, betonte gleichzeitig Streik- und Verhandlungsbereitschaft und will vor allem „beschäftigungsichernde Maßnahmen“ mit den Arbeitgebern vereinbaren. Gesamtmetallpräsident Hans-Joachim Gottschol erklärte, ein massiver Streik werde viele Unternehmen in den Ruin treiben und zahlreiche Arbeitsplätze vernichten. Im übrigen überließ er der Präsidentin des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) das Wort, die niedrigere Lohnkosten und flexiblere Arbeitszeiten als Grundvoraussetzung für eine Genesung der siechen Autobranche forderte.
Wie zwischen diesen Positionen ein Kompromiß gefunden werden soll, vermag im Augenblick niemand zu sagen. In der Frankfurter IG-Metall-Zentrale und in den Bezirken zerbricht man sich den Kopf darüber, ob die Arbeitgeber tatsächlich diesmal Tarifpolitik mit der Brechstange betreiben wollen.
Die Aufkündigung der Lohntarife und Urlaubsbestimmungen von Arbeitgeberseite weist in diese Richtung. Sie macht nur dann einen Sinn, wenn sie nicht nur auf eine inflationsbedingte reale, sondern darüber hinaus auf eine nominale Senkung des Lohnniveaus zielt. „Es geht den Arbeitgebern nicht um eine Nullrunde, sondern um eine Minusrunde“, wettern die Gewerkschafter. Intern wird das angestrebte Minus auf rund 15 Prozent beziffert.
Die Mitteilungen aus dem Arbeitgeberlager sind nicht geeignet, die Befürchtungen der Gewerkschaft zu zerstreuen. Das vorrangige Ziel der Verhandlungen müsse sein, „die durch die Tarifverträge verursachten Kosten zu senken und solche tarifvertraglichen Regelungen zu beseitigen, die betriebliche Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung einengen“, schreibt der Arbeitgeberverband Nordmetall in einer Mitte Januar der Industriegewerkschaft Metall übermittelten Erklärung.
Was damit gemeint ist, wird in einem weiteren Schreiben ausgeführt: „Für Teile des Betriebes, für Gruppen von Arbeitnehmern oder für einzelne Arbeitnehmer kann die individuelle regelmäßige Arbeitszeit durch freiwillige Betriebsvereinbarung oder Einzelarbeitsvertrag auf bis zu 40 Stunden/Woche (2.088 Stunden/Kalenderjahr) festgelegt werden.“ Und die regelmäßige Arbeitszeit der Beschäftigten soll im „Interesse einer optimalen Nutzung der betrieblichen Anlagen und Einrichtungen ... auch ungleichmäßig auf die Wochen verteilt werden“ können.
Die Arbeitgeber haben also die tariflichen Bestimmungen über die Wochenarbeitszeit im Visier, wollen die Arbeitszeit für große Teile der Beschäftigten nicht etwa verkürzen, sondern wieder auf 40 Stunden heraufsetzen. Gleichzeitig verlangen sie eine allein an betrieblichen Interessen orientierte Flexibilisierung. Daß dies die Beschäftigung nicht sichern, sondern im Gegenteil zu einem weiteren Abbau der Randbelegschaften führen wird, sagen sie nicht dazu.
Und die Chancen der Arbeitgeber für diese Erosion tariflicher Regelungskompetenz der Gewerkschaften stehen nicht schlecht. Rechtzeitig vor Ende der Friedenspflicht konnte mit der Firma Schlafhorst AG ein prominentes Maschinenbau-Unternehmen präsentiert werden, in dem Geschäftsführung und Betriebsrat genau diese Forderungen in eine Betriebsvereinbarung gegossen haben. Danach verpflichten sich die Beschäftigten zu längerer und flexiblerer Wochenarbeitszeit.
Die Industriegewerkschaft Metall bestreitet nicht, daß die Metallindustrie sich zur Zeit in einer schwierigen Situation befindet. Aber sie hat immer wieder darauf gepocht, daß Zugeständnisse beim Lohn mit beschäftigungsichernden Maßnahmen verbunden sein sollten. Vorbild für derartige Regelungen ist die Vereinbarung bei der Volkswagen-AG: Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich und damit Senkung der Lohnkosten gegen Entlassungsmoratorium. Den Vorschlag des stellvertretenden IG-Metall-Chefs Walter Riester, die für den Herbst 1995 anstehende Verkürzung der Wochenarbeitszeit von derzeit 36 auf 35 Stunden vorzuziehen, haben die Arbeitgeber zurückgewiesen.
Ganz zu ist die Tür aber nicht. Auch die Metallarbeitgeber von Nordmetall meinen, „für alle Arbeitnehmer oder für Gruppen von Arbeitnehmern (könne) durch freiwillige Betriebsvereinbarung Teilzeitarbeit unter entsprechender Minderung der Tariflöhne und -gehälter“ eingeführt werden. Wenn derartige Regelungen noch durch ein verbindliches allgemeines Entlassungsmoratorium ergänzt werden, sind sie nicht weit vom VW-Modell entfernt. Deshalb hat die IG Metall schon vor Wochen den Vorschlag eines Entlassungsmoratoriums in die Diskussion gebracht, obwohl unter Arbeitsrechtlern umstritten ist, ob das überhaupt tarifvertraglich zu regeln ist.
Niemand weiß genau, wie es jetzt weitergeht. Aber beide Seiten stehen unter starkem Druck, der Konfrontation aus dem Wege zu gehen. Die Arbeitgeber können ihr Forderungspaket nur um den Preis einer enormen gesellschaftlichen Polarisierung durchsetzen. Sollten sie das Scheitern der Verhandlungen erklären, wären flächendeckende „Angriffsaussperrungen“ die logische Konsequenz. „Wie sie das in der Öffentlichkeit durchhalten wollen, sehe ich nicht“, meinte gestern ein norddeutscher IG-Metall-Funktionär.
Die IG Metall dagegen steht unter dem Druck der Massenarbeitslosigkeit und der Bereitschaft vieler Betriebsräte, ähnlich wie bei Schlafhorst tarifvertragliche Bestimmungen zu unterlaufen. Schließlich schwebt über der Gewerkschaft nach wie vor das Damoklesschwert des Paragraphen 116 des Arbeitsförderungsgesetzes, der die Auszahlung von Lohnersatzleistungen bei arbeitskampfbedingten „kalten“ Aussperrungen weitgehend ausschließt. Schon vor Jahren hat die IG Metall dagegen vor dem Verfassungsgericht geklagt. Aber die Karlsruher Richter lassen sich Zeit. Martin Kempe
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