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"Wie wir wirklich sind"

■ Kiezfilm über ausländische Jugendliche zwischen Beton und Straße in Schöneberg

Heimatfilme sind meist muffig. Hinter Alpenglühen und Tannenrauschen versinkt da die Realität. Süßholzgeraspel in Mundart erstickt den Zuschauer in einer rosaroten Wolke. Daß es anders geht, beweist das Filmprojekt des Schöneberger Jugendcafés in der Potsdamer Straße.

Dort war am vergangenen Wochenende die Premiere der Dokumentation „Rücke vor bis zur Pallasstraße – Ansichten und Aussichten von ausländischen Jugendlichen“. Es ist ein Heimatfilm ohne Schminke und Retusche geworden.

Handlungsort ist der Kiez um den „Sozialpallast“, ein Wohnsilo, das die Pallasstraße wie eine Brücke überspannt. Seit den siebziger Jahren leben auf dem ehemaligen Sportpalastgelände hauptsächlich Albaner, Kurden, Türken und Araber. Drehbuchautor ist die Realität der ausländischen Jugendlichen, die in Berlin geboren wurden und in der Umgebung des Betonklotzes am Winterfeldtplatz aufgewachsen sind.

Ein halbes Jahr lang haben die Journalistin Renate Adams und der Leiter des Jugendcafés, Bruno Smith, neun Jugendliche mit der Kamera begleitet. Unkommentiert erzählen sie in kleinen Interviews von ihrem Leben zwischen Beton und Straße, zwischen Resignation und Hoffnung. Anstoß für das Projekt, sagt Karlies Krumins vom Jugendcafé, gab das Fernsehteam eines Privatsenders. Das tauchte kurz nach Mölln im Stammtreffpunkt der Jugendlichen auf. „Am nächsten Tag wurden nur Bilder von messerschwingenden Kids gezeigt, die ,Rache, Rache‘ brüllten. Die Jugendlichen waren enttäuscht von dieser Darstellung“, sagt Krumins.

Die Dokumentation wehrt sich gegen dieses Böse-Buben-Stereotyp. Der 18jährige Ali etwa beschreibt vor der Kamera sein zwiespältiges Lebensgefühl – und das der anderen Jugendlichen: „Ich bin hier aufgewachsen, hier ist meine Heimat, aber meine Mentalität hat sich nicht geändert.“ Das trifft den Nerv des Premierenpublikums. Die Jugendlichen johlen und pfeifen. Denn alle kennen die Zerrissenheit, sich einerseits als Berliner zu fühlen und zugleich in den Traditionen der Elterngeneration verwurzelt zu sein. Dieses Leben in zwei Welten – der Film beweist, wie mühsam es ist.

„Was sie vor allem brauchen, ist Zuneigung“, sagt Projektleiter Smith. Und die bekommen sie im Jugendcafé. Es ist ihr „zweites Wohnzimmer in diesem Ghetto“, meint der 18jährige Baggio. Die Gegend sei mies, „man kann sich hier gar nicht wohlfühlen“. Viele der meist zehnköpfigen Familien leben in zwei bis drei Zimmern bei einer Monatsmiete von 1.200 Mark. Den Jugendlichen bliebe nichts anderes als die Straße oder das Jugendcafé, sagt Baggio. Er ist wie Ali einer der Protagonisten, die in dem Film portraitiert werden.

Jeder von ihnen repräsentiert eine Strategie, in dem „Ghetto“ zu überleben. Verbunden werden die einzelnen Portraits durch Spielszenen: Die Darsteller sitzen um einen Tisch und spielen „Gangstermonopoly“. Anstelle von Hotels werden Spielhallen auf den Straßen gebaut. Milieugerecht muß man nach einer Messerstecherei erst mal eine Runde aussetzen. Baggio und die 19jährige Belgin sind in der Dokumentation die Gewinner dieses Spiels. Sie haben es geschafft, eine eigene Identität in ihrer zerrissenen Lebenswelt zu finden. Zur Zeit machen beide eine Lehre: nicht gerade die Regel im Kiez.

Verlierer ist der 17jährige Alex. Für ihn wurde das Gangstermonopoly Realität. Kurz vor der Premiere landet er in Plötzensee, weil er dort eine 21monatige Jugendstrafe wegen Raubes absitzen muß. Die restlichen sechs versuchen mit Breakdance oder Graffiti, sich eine Alternative zur Welt des „Sozialpallastes“ aufzubauen. „Andere Mittel, sich auszudrücken, haben sie nicht“, so Bruno Smith. Baggio hofft, daß durch die Dokumentation „die Leute erfahren, wie wir wirklich sind“. Olaf Bünger

Der Film ist zum einen für Schulen und Jugendeinrichtungen gedacht, aber auch für eine Veröffentlichung im Fernsehen. Die Regisseure wollen die Dokumentation verschiedenen Sendern kostenlos anbieten. Die Videokassette kann man sich beim Jugendamt Schöneberg ausleihen.

Foto: Ralph Rieth

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