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Anspruch bleibt, Garantie gibt's keine

Um den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz „im Prinzip“ bestehen zu lassen, ihm aber nicht nachkommen zu müssen, sollen „Öffnungsklauseln“ den Bundesländern helfen, das Platzangebot nach eigenem Gutdünken zu regeln.

Wir haben sie noch deutlich im Ohr, die großen Versprechungen, die mit der Verabschiedung des Abtreibungsrechts Ende letzten Jahres einhergingen. Den Frauen sollte eine Alternative zum Abtreiben geboten werden. Damit sie nicht aus materieller Not eine Schwangerschaft abbrechen, sollten ihnen zumindest Anreize geboten werden. Also schuf man neben einem liberalisierten Abtreibungsrecht Anreize zum Kinderkriegen. Einer davon war die Neuregelung im Kinder- und Jugendhilfegesetz, wonach jedes Kind zwischen drei und sechs Jahren einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz haben soll. Das ist doch was, dachten die Gesetzgeber. Ist's erst einmal auf der Welt, das Kleine, so muß es nur noch drei Jahre warten, dann darf es spielen gehen, und Muttern kann zurück in den Beruf.

Während jedoch das Bundesverfassungsgericht bereits die liberalisierte Abtreibungsmöglichkeit gekippt und neue Vorbehalte eingebaut hat, sind nun ein paar Bundesländer dabei, die Kindergartenregelung, die am 1. 1. 1996 für alle Länder in Kraft treten sollte, abzuwürgen, bevor sie überhaupt zur Geltung gekommen ist. Wieso? Es gibt Bundesländer, die sich nicht in der Lage sehen, allen Kindern zwischen drei und sechs Jahren einen Kindergartenplatz zuzusichern – Begründung: das Übliche, kein Geld. Den Kommunen, die für die Umsetzung des bundesgesetzlich geregelten Anspruchs auf Kindergartenplätze verantwortlich sind, mangelt es an Geld, an Räumlichkeiten, an Erziehungspersonal oder an allem auf einmal. Soweit die sachliche Begründung.

Der politische Hintergrund formuliert sich naturgemäß anders. Die Bundesländer, die heute das Gesetz beklagen und es ändern wollen – und das sind ausschließlich Westländer, da die Ostländer aus historischen Gründen genügend Kindergartenplätze zur Verfügung stellen können –, haben damals im Bundesrat der Verabschiedung des Gesetzespakets zugestimmt. Warum? Weil sie das leidige Abtreibungsrecht vom Tisch haben und es nicht an den Nebenbestimmungen scheitern lassen wollten.

Das ist wohl gesprochen und gut gehandelt. Böse Zungen behaupten aber nun, daß einige Länder von Anfang an nicht willens waren, die Umsetzung anzugehen, sondern von vornherein darauf gesetzt haben, die Regelung zu umgehen oder zu novellieren. Dabei wurden zwei Möglichkeiten in Erwägung gezogen. Die eine bestand darin, die Regierung zu einer finanziellen Zugabe zu bewegen. Das hat nicht geklappt. Die andere liegt nun auf dem Tisch und wurde auf der gestrigen Jugendministerkonferenz in Mainz behandelt: Das Gesetz soll umgeschrieben werden.

„Das ist der Stoff, aus dem Politikverdrossenheit erwächst“, sagt Klaus Löhe, Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung für Jugend und Familie. Und: „Gründe, zurückzuschrecken, gibt es immer. Wir versuchen erst einmal, den Anspruch umzusetzen.“ Entsprechend gibt es in Berlin auch einen Senatsbeschluß, der dem Anspruch Rechnung trägt und alles daransetzt, für die voraussichtlich 1996 noch nicht untergebrachten 42.000 lieben Kleinen Plätze zu schaffen. Dafür sollen unter anderem ehemalige Kindergärten der Westalliierten benutzt werden. Daneben wird natürlich auch neu gebaut. „Wir sind das einzige Westland“, sagt Löhe, „das noch voll an dem Anspruch festhält.“

Alle anderen Altbundesländer wollen novellieren und sind sich zumindest in einem Punkt einig. Während das Gesetz ganz allgemein vom dritten Lebensjahr spricht, wollen die Jugendminister und -ministerinnen eine Stichtagsregelung einführen. Wer zu Beginn des Kindergartenjahres (das ist im August) bereits drei Jahre alt ist, hat einen Anspruch, alle anderen kommen erst ein Jahr später an die Reihe. Damit wird die Gruppe der Anspruchsberechtigten im ersten Jahr schon mal halbiert.

Des weiteren gibt es den Vorschlag Nordrhein-Westfalens, eine sogenannte Stufenregelung einzuführen. Um den Rechtsanspruch bestehen zu lassen, ihm aber dennoch nicht auf ganzer Linie nachkommen zu müssen, schlägt das dortige Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales vor, daß zunächst nur die Fünfjährigen einen Anspruch erhalten, später die Vierjährigen und schließlich, so um die Jahrtausendwende, dann auch die Dreijährigen.

Ein anderes Modell wurde in Schleswig-Holstein erarbeitet. Dort will man in das Kinder- und Jugendhilfegesetz eine „Öffnungsklausel“ einarbeiten, nach der jene Länder, die sich schlechterdings nicht in der Lage sehen, die nötigen Plätze bereitzustellen, ihre Versorgungsstufen in eigenen Gesetzen selbst regeln dürfen. Konkret bedeutete das, daß die Länder in ihren Kabinetten bekennen müßten, daß sie dem Anspruch nicht gerecht werden können, also eine Art Offenbarungseid leisten müßten, um dann nach eigenem Gutdünken das Platzangebot zu regeln. Und schließlich, wie sollte es anders sein, gibt es noch Bayern mit einem Sonderweg. Nicht, daß die Bayern einen eigenen Änderungsvorschlag anböten. Vielmehr fühlen sie sich von dem Rechtsanspruch, wie ihn das Kinder- und Jugendhilfegesetz regelt, gar nicht angesprochen. Sie verweisen dabei auf eine Norm in ebendiesem Gesetz, wo es heißt, daß jene Länder, die die Kindergesetze seit eh und je dem Kulturbereich zuweisen, von der Regelung unberührt seien. Und tatsächlich, die Fragen der Kinder und Jugendlichen werden in Bayern vom Kultusminister bearbeitet.

Eine Anfrage im Hause Merkel, Bundesministerin für Frauen und Jugend, und, so sollte man erwarten, an vorderster Stelle an dem Erhalt der Regelung interessiert, ergibt, daß man sich auch dort „einer Streckung nicht verschließt“. Dann wird auf eine Untersuchung (siehe Tabelle) verwiesen, wonach es am 1. 1. 1993 in den alten Bundesländern insgesamt an 805.706 Kindergartenplätzen und knapp über 53.000 ErzieherInnen fehlte – mit zunehmender Tendenz wegen steigender Geburtenrate. Wie groß die Ignoranz im Ministerium ist, belegt die Erklärung der Pressesprecherin der Frauenministerin: „Für uns bedeutet Streckung, daß man an dem Ziel festhält, einen Rechtsanspruch für einen Tag X zu schaffen – wann das ist, ist für uns egal.“ Julia Albrecht

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