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Der Holocaust als Lexikon

Wie sagt man, Auschwitz habe stattgefunden? Der lexikalische Diskurs des Erinnerns führt paradoxerweise zum Vergessen  ■ Von Michael Marek

Wer Opfer wurde, bleibt es, schrieb der Essayist und Auschwitz-Überlebende Jean Améry. „Wer gefoltert wurde, bleibt gefoltert. Ich baumele noch immer, zweiundzwanzig Jahre danach, an ausgerenkten Armen über dem Boden.“ Wer wie Améry zu der verschwindend kleinen Minderheit gehörte, die dem Zyklon B entkommen war, der mußte seine Erfahrungen mitteilen – oder verstummen, wie die meisten Geretteten. Über die Hintergründe und Auswirkungen der Judenvernichtung zu informieren, umfassend und auf dem gegenwärtigen Forschungsstand, diesen Anspruch erheben die Autoren der „Enzyklopädie des Holocaust“.

Eine ganz andere Perspektive?

Über 200 internationale Fachwissenschaftler haben an dem 1989 zeitgleich in Israel und den Vereinigten Staaten erschienenen und nun auch auf deutsch vorliegenden Nachschlagewerk gearbeitet: darunter Historiker, Politologen, Soziologen, Psychologen, Religions-, Rechts-, Literatur-, Film- und Kunstwissenschaftler. Ein Mammutvorhaben in jeder Hinsicht: Auf knapp 2.000 Seiten sollen die Ursachen und Erscheinungsformen des Rassismus ebenso umfassend dargestellt werden wie der antisemitische Terror in Deutschland und Europa. In alphabetischer Reihenfolge kommen die Repressionsmaßnahmen des NS-Staates ausführlich zur Sprache, von der Erfassung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung bis zu ihrer Deportation, Ghettoisierung und Vernichtung. Darin eingeschlossen: Artikel zu jüdischem Widerstand oder solidarischem Verhalten gegenüber Juden. Ferner finden sich in der dreibändigen Enzyklopädie Beiträge über die NS- Verbrechen an Nichtjuden, politischen Gegnern, Minderheiten wie den Sinti und Roma oder an der Bevölkerung okkupierter Länder. Ergänzend wird das Schicksal von Résistance-Kämpfern und Partisanen, vor allem aber der sowjetischen Kriegsgefangenen anhand schriftlicher und fotographischer Dokumente geschildert.

Die Stichwörter gehören mehreren Kategorien an wie Orte (Sobibor), Ereignisse (Alija Bet, Waldheim-Affäre, Wannsee-Konferenz), Personen (Jan Karski, Elie Wiesel), Organisationen (Amelot, Totenkopfverbände der SS) oder NS-Sprachregelungen (Endlösung). Wenngleich nicht alle Stichwörter dem Themenbereich „Judenvernichtung“ im engeren Sinne entspringen (Führerprinzip), so sind sie nichtsdestoweniger von Bedeutung für das Gesamtgeschehen. Zentrale Begriffe wie „Antisemitismus“ oder „Faschismus“ werden quantitativ privilegiert behandelt, da ihnen eine übergeordnete Funktion zukommt. Doch im Vordergrund steht völlig zu Recht die Geschichte der Verfolgten und Opfer – mit dem Ziel, „ein gewisses Gegengewicht gegenüber der häufig vorherrschenden, ganz auf die Täter bezogenen Perspektive zu bieten“, so die Herausgeber. Doch worin besteht diese andere Perspektive?

Zu den Stärken der Enzyklopädie gehören die zahlreichen Stichwörter über jüdische Opfer und ihre Organisationen. Die Geschichte dieser jüdischen Frauen und Männer wird in der Bundesrepublik nur selten erwähnt. Nur: In der Darstellung einiger Artikel verschwindet der andere Blickwinkel, vor allem in der Kathedersprache mancher Autoren. Oder was soll man von folgender Passage in Yehuda Bauers „Zigeuner“-Artikel halten: „Ihre Berufswahl (der Zigeuner, d. Red.) war durch ihre nomadische Lebensweise bestimmt. Oft wurden Zigeuner des Diebstahls und der Unehrlichkeit beschuldigt. Gleichzeitig aber inspirierten ihre Musik und ihre Dichtung berühmte Künstler wie etwa Franz Liszt.“ Bauer bleibt ganz in der Haltung des distanzierten Wissenschaftlers, der „nur“ referiert, aber unterderhand die Vorurteile der Täter abbildet. Und er macht sich noch nicht einmal die Mühe, sie zu widerlegen.

Auch in anderer Hinsicht erweist sich die „Enzyklopädie des Holocaust“ mitunter als ungenügend. So behauptet der Herausgeber Israel Gutmann: „Der Holocaust ist ein emotional stark belastetes Thema. Die Überlebenden und die unmittelbar Betroffenen sind emotional so beteiligt, daß sie oft außerstande sind, sich dem Gegenstand objektiv und analytisch zu nähern.“ Historisch-empirische Wissenschaft als Ethik-freies Zählen der Toten von Auschwitz? Die Unbekümmertheit, mit der hier an der Trennung von wissenschaftlicher Objektivität und erlittener Subjektivität festgehalten wird, muß mehr als befremden. Ist es doch dieser Dualismus, der zum Nicht-Verstehen-Können von Auschwitz beigetragen hat. Angesichts der umfangreichen Literatur von „Betroffenen“, ohne die unser Wissen um die Struktur der Konzentrations- und Vernichtungslager mehr als nur kümmerlich wäre, wirkt sie geradezu anachronistisch.

Eine Nummernparade von Namen und Titeln

Über 1.000 Stichwörter und Artikel vereinigt das Nachschlagewerk. Seit Diderot gehört es zur Philosophie der Encyclopédie, alles zu sagen. In diesem Alles steckt das ganze Konzept – und seine ganze Problematik, auch was den Holocaust betrifft. Denn der Anspruch des Lexikons impliziert ja, daß man nichts sagt, wenn man nicht alles sagt. Die Artikel über Literatur, Film, Musik und Holocaust sind nichts anderes als Nummernparade von Namen und Titel, jegliche Reflexion fehlt. Der Abschnitt zum „Faschismus“ verbleibt allein auf der Ebene der ideologischen Absichten und verkennt dabei völlig das Wesen und Zusammenwirken der Behemoth, so wie Franz Neumann das Machtbündnis aus Militär, Bürokratie, Partei und Industrie bezeichnete.

So gelungen manche Einzelbeiträge auch sind, sie können nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich hinter der „Enzyklopädie“ ein grundsätzliches Problem verbirgt: Wie werden Forschungskontroversen überhaupt dargestellt? Lexika neigen dazu, sich einem totalitären Standpunkt zu unterwerfen, indem sie empirisches Wissen referieren und Widersprüchliches schlichtweg ignorieren.

Und so gleicht der Anspruch, die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden mit den Mitteln der Enzyklopädie zu erfassen, einem Paradoxon: Der lexikalische Diskurs des Erinnerns führt zum Vergessen. Nicht in dem Sinne, daß der Holocaust verharmlost, sondern das historische Geschehen und seine Deutung verzerrt wird. Die Autoren sind selbst Teil einer Entwicklung, vor der sie warnen. Dabei spiegelt die „Enzyklopädie des Holocaust“ nur ein allgemeines Phänomen moderner Gedächtnisbildung wider: Der Effekt des Erinnerns ist unausweichlich das Vergessen. Und so forderte Theodor W. Adorno 1966 (zur gleichen Zeit wie Améry) in seiner negativen Dialektik: „Die Schuld des Lebens, das als pures Faktum bereits anderem Leben den Atem raubt, einer Statistik gemäß, die eine überwältigende Zahl Ermordeter durch eine minimale Geretteter ergänzt, wie wenn das von der Wahrscheinlichkeitsrechnung vorgesehen wäre, ist mit dem Leben nicht mehr zu versöhnen. Jene Schuld reproduziert sich unablässig, weil sie dem Bewußtsein in keinem Augenblick ganz gewärtig sein kann. Das, nichts anderes, zwingt zur Philosophie.“ Michael Marek

Israel Gutmann, Eberhard Jäckel, Peter Longerich, Julius H. Schoeps (Hrsg.): „Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden“, Argon Verlag, Bd.1: A-G, 587 S.; Bd.2: H-R, 1.265 S.; Bd.3: 1.914 S.; Abb.; 148 DM

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