: Geschichten von Anno Astoria
■ Eine Filmfest-Premiere: „Astoria – Es war einmal ein Variete“
„Astoria – Es war einmal ein Variete“ erzählt die Geschichte des glorreichen Bremer Nachtlebens in der guten Tradition der „oral history“: ein ehemaliges Nummerngirl erinnert sich an den ostfriesischen Lottokönig, der im Astoria sein Geld verpraßte; die Musiker von der Hauscombo erzählen, daß sie ihre ersten (damals verbotenen) Jazzrhythmen auf einem Akkordeon und der Marschtrommel von der Hitlerjugend spielten, und der langjährige Orchesterchef beschreibt gerührt einen Auftritt von Zarah Leander. Sie alle erzählen von der schönsten Zeit ihres Lebens, und das Kino ist das ideale Medium, um Zeit erfahrbar zu machen. Die energische Ingeborg Kiehn mit der rauhen Zigarettenstimme war einmal das schicke Nummerngirl auf der Schwarz-Weiß-Fotographie, und die heute 80jährige Sekretärin des Chefs Emil Fritz macht verschämte Handbewegungen, die andeuten, daß es heiß herging, wenn sie in den 30er Jahren mit einem leitenden Angestellten von Karstadt „in der Nische Sekt trank“.
Die Filmemacher Rolf Wolle, Claus Bouchard und Andree Engelmann waren klug beraten, als sie diese Erzählungen der Zeitzeugen in den Mittelpunkt des Films stellten. Die weiteren Zubehörteile eines konventionellen Dokumentarfilms wie Erzählstimme im Off, Fotos, Plakate und historische Filmaufnahmen wurden auf das Nötige reduziert (nur von einem Auftritt der begnadeten Trude Herr mochten die Filmemacher nicht eine Sekunde schneiden), und stattdessen ruht die Kamera lange auf den in Erinnerungen schwelgenden Astorianern.
Und denen merkt man heute noch an, daß sie mal in der Welt des Showbusiness zuhause waren: Ihre Selbstdarstellungen haben neben dem dokumentarischen auch beachtlichen Unterhaltungswert. So zieht die Tochter von Emil Fritz mit der souveränen Arroganz der besseren Kreise über die verklemmten Hanseaten her und ein Stammgast spielt beim Bier den kompletten Sketch eines Entertainers nach. Den Filmemachern waren zum Glück die Geschichten wichtiger als die Geschichte und so braucht man wohl keine große Angst zu haben, daß Rolf Wolle auf seinem Film sitzen bleibt, denn von dessen 57 Minuten sind erst 3 bezahlt.
Bei der Premiere des Films am Sonntag verwandelte sich das „Filmfest Bremen“ endgültig in eine nostalgische Weihe des „Astoria“. Außer fast allen Mitwirkenden saß scheinbar der gesammte Stamm der Astorianer im Kino und Kommentare wie „Die war ja noch viel schöner“ oder „Kuck mal, da ist ja der Lothar“ störten diesmal nicht im Kino. Als dann hinterher die „City Club Combo“ nach 37 Jahren Pause nochmal im Stil der alten Tage swingte, da bekam man sogar im Medienzentrum Walle eine Ahnung davon, wie das Bier damals schmeckte – im Astoria.
Wilfried Hippen
Kino 46 von Do.-So. um 20.30 Uhr, nächste Woche Mo.u.Di. 16 Uhr
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