: Modernisierungskompensation
Ekaterina Tomowa hat in den Bergdörfern der Rhodopen steinalte Bulgaren als Gesprächspartner gefunden. Nun inszeniert Dimiter Gotscheff deren Geschichten am Schauspielhaus Düsseldorf – sehr körpersprachlich ■ Von Gerhard Preußer
Alles alte Leute im Theater. Nun bringen sie noch die Hundertjährigen auf die Bühne. Der Vorwurf der Senilität des Theaters wird von dieser Inszenierung aufs schönste bestätigt – und widerlegt.
Dimiter Gotscheff, der nach Anfängen in der DDR seine Karriere in Westdeutschland als Heiner-Müller-Adept und Spezialist für Körpersprache machte, erinnert nun zum erstenmal öffentlich an seine bulgarische Herkunft. Er dramatisiert einen Bestseller aus seinem Heimatland. 1975 zeichnete die Journalistin Ekaterina Tomowa Gespräche mit Bewohnern der Bergdörfer in den Rhodopen, dem Gebirgszug an der Grenze zu Griechenland, auf. Ihre Gesprächspartner waren zwischen 90 und 108 Jahren alt und erzählten vom Leben, vom Tod, von ihrer Vergangenheit auf der Erde und von ihrer Zukunft im Himmel: Dorfgeschichten mit naiver Poesie, voll von Aberglauben und wunderlicher Bauernmetaphysik, Brautentführung, Mord und Reue, verlassenen Frauen und verspäteter Treue. Sie bearbeitete diese Interviews und formte sie um zu geschlossenen Erzählungen, Protokoll-Literatur zwischen Dokumentation und Stilisierung, wie es sie damals auch bei uns (vor allem in der DDR) gab.
Gotscheffs Inszenierung erfüllt keine der schlimmen Erwartungen, die das Genre weckt: kein Sozialarbeiterkitsch, keine Bauernromantik, keine deklamatorische Sachlichkeit. Er mischt die Monologe zu einer kunstvollen musikalischen Struktur. Erst trägt das Darstellersextett im leeren, weißen Bühnenraum seine Themen nacheinander vor: Daphina wartet auf ihren nach Amerika emigrierten Sohn, Sofia ruft nach ihrer Ziege, Leja schmachtet nach seiner verstorbenen Magdalina, Dimiter redet mit dem Wind, Kalin bereut seine Geldgier, Noah klagt über die Ungerechtigkeit Gottes. Dann kommt eine extreme Engführung mit beschleunigten Themeneinsätzen. Alle sitzen an der Rampe und reden fast gleichzeitig. Schließlich folgt eine Serie von Solos, in denen die aufgestellten Themen zu ihrem Abschluß gebracht werden. Und am Schluß dann eine komplex orchestrierte Coda mit allen Figuren.
Gotscheff behandelt die Sätze der Bergbauern, als seien sie von Heiner Müller oder Georg Büchner. (Einige könnten es auch sein: „Ein Buch ist größer als ein Grab“, „Meine Augen waren klar, ging der Himmel hinein, kam er klar heraus.“) Er entwickelt den Text aus der Körpersprache seiner Schauspieler. Peter Siegenthaler als Sofia zeigt ohne jedes Requisit, nur mit einer Papiermaske und einer Schürze, eine hintersinnig renitente Alte, die sich auch schon mal lachend auf den Rücken wirft. Werner Wölbern bedient sich als Kalin zweier holzgeschnitzter Zusatzhände und einiger manischer Zuckungen, um die schröckliche Mordgeschichte vom geldgierigen Wirt zu erzählen. Gotscheff ist ein großer Künstler, er könnte wahrscheinlich auch das Telefonbuch in spannende Körpersprache übersetzen.
Was die Texte der Hundertjährigen, jenseits aller Exotik und Nostalgie, zeigen, ist, daß die personale Identität in der Einheit einer erzählbaren Lebensgeschichte besteht. Der Mensch ist ein geschichtenerzählendes Tier. Wer man ist, weiß man, wenn man sein Leben erzählen kann. Was die Inszenierung jenseits aller Theaterkonventionen zeigt, ist, daß unsere einzelnen Geschichten in die Geschichten der anderen verwoben sind.
Das Alter der Figuren steht im Widerspruch nicht nur zu den avancierten ästhetischen Mitteln der Inszenierung, sondern auch zum Alter des Zielpublikums: kein Seniorentheater, sondern Kindertheater für alle. Kein sentimentales Wiedererkennen, sondern Lebenserfahrung für solche, die noch keine haben. Schließlich schreibt Noah als Schlußepistel einen Appell an die Nachgeborenen auf den Boden: „Laßt auch nicht verschlingen, ihr, von der anderen Welt, die ihr kommen werdet, auch wir waren einst wie ihr.“ Die Beschleunigung der Veränderung der Lebenswelt bringt ein Bedürfnis nach Kompensation der Modernisierungsverluste hervor, das sich beim Theaterpublikum meist als Forderung nach „Werktreue“ und Wiederholung des immer schon Gesehenen äußert. Wenn das Theater irgendwie dieses Bedürfnis befriedigen kann, ohne sich als Kunst selbst abzuschaffen, dann mit einer solchen verschmitzt avantgardistischen Gedenkveranstaltung für unsere archaischen Ahnen.
Ekaterina Tomowa: „Die vom Himmel Vergessenen“. Inszenierung: Dimiter Gotscheff, Bühnenbild: Achim Römer, mit Peter Siegenthaler, Werner Wölbern u.a. Schauspielhaus Düsseldorf (Kleines Haus). Die nächsten Vorstellungen sind am 18., 26. und 27. Februar zu sehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen