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Wenn du sprichst, wird es hell

Der neue Film von Eric Rohmer „Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek“ (Forum) erzählt vom Landleben, von seiner vielfältigen Bedrohung, einer wunderbaren Lösung — und vor allem von der Liebe zum Sprechen  ■ Von Ina Hartwig

Geschwiegen wird nicht. Auch nicht geküßt. Und auch Jugendliche kommen nicht vor in „L'arbre, le maire et la médiathèque“. Was ist in Eric Rohmer gefahren?

Der alternde Liebhaber der jungen Liebenden hat den Zyklus der „Contes des quatre saisons“ (Märchen der vier Jahreszeiten) unterbrochen und etwas gemacht, was man auf den ersten Blick einen politischen Film nennen könnte. Rohmer lehnt diese Titulierung aber ab. Dabei zeigt er als Hauptperson einen Politiker, der ein solides politisches Problem hat, nämlich eine Wahl verloren zu haben und die nächste gewinnen zu wollen, was er damit zu erreichen gedenkt, daß er in sein altes kleines Dorf — der Mann ist Bürgermeister — eine neue große Mediathek samt Sport- und Freilichttheateranlage und dazugehörigen Parkplätzen bauen lassen will.

Der Rektor der Dorfschule, vor dessen Haus das Ungetüm entstehen soll, ist entschiedenst dagegen. Besonders wenig behagt dem aufgebrachten Schulmeister, daß ein alter Baum fallen soll. Nicht gegen die geplante Mediathek, aber gegen den Bürgermeister ist ein Cousin desselben aus Paris, ein sozialistischer Parteigenosse und Mitglied der Nationalversammlung. Er will an das politische Talent seines Verwandten aus der Provinz, den es ebenfalls in die Nationalversammlung treibt, nicht glauben. Deshalb wird er dafür sorgen, daß die schon bewilligten Kredite vom Kultusministerium schließlich zurückgenommen werden, so daß das in Rede stehende Dorf am Ende bleibt, wie es war: ohne Mediathek und — glücklich.

Das Rätsel des Films ist, daß es trotzdem keinen Verlierer gibt. Und genau das ist für Rohmers Anthropologie und Poesie typisch. „Jeder Mensch besitzt eine Wahrheit“, sagt Rohmer in einem Interview der Zeitschrift „Cahiers du cinéma“ (Nr. 467/8). Schelmisch läßt er in der Schlußsequenz den Bürgermeister auf einem idyllischen Dorffest singen, unterstützt von einem Chor und umgeben vom prächtigen Grün ungefällter Bäume, alle seien nun froh, daß endlich eine Lösung gefunden sei... Daß es sich um eine Lösung handelt, die seine eigenen Pläne zunichte macht, scheint ihm gar nichts auszumachen.

In der ersten der insgesamt sieben Episoden zeigt Bürgermeister Julien Dechaumes (Pascal Greggory) seiner Freundin Bérénice Beaurivage (Arielle Dombasle) „sein“ Dorf. Es heißt Saint-Juive und liegt in der Vendeé; ein Bilderbuchdorf, in dem es kein Auto zu geben scheint. Diese rurale Künstlichkeit erstreckt sich auch auf die Personen. Bérénice, Pariserin und Schriftstellerin, ist eine blonde, langhaarige Schönheit und zu Besuch: ein gänzlich unländliches Wesen. Aber auch Julien, der als Politiker so sehr darauf beharrt, links zu sein, sieht nicht gerade aus wie ein Bauer. Er ist Schloßherr (wir werden später im Pariser Büro seines ihn befehdenden Cousins belehrt, daß sich Royalismus und Sozialismus nicht ausschließen) und schreitet mit Bérénice, die ihm beim stilvollen Frühstück kichernd empfohlen hatte, für den Wahlkampf den Bart wachsen zu lassen, über die Wiesen, als wolle er — wie der erste Landbesitzer in Rousseaus „Diskurs über die Ungleichheit“ — ihr bedeuten: Dies alles gehört mir.

Bérénice — man hält sie zuerst für dümmer als sie ist — kreischt bei jeder Naturerscheinung, die Julien ihr vorführt, begeistert „extraordinaire“: Wahnsinn! Blattsalat sieht sie das erste Mal am Boden wachsen („extraordinaire!“), und angesichts zierlicher Madonnenlilien fällt ihr nichts anderes ein, als daß sie sich die gern ins Haar stecken würde. Naturschutzregeln, über deren Existenz Julien sie erst aufklären muß, vereiteln den ausgefallenen Wunsch.

Immer wieder ist in einer Ecke der Leinwand der Kirchturm des Dorfs zu sehen, als drehe die — sehr ruhige — Kamera sich in weit ausholenden Schritten um diesen; ein Leitmotiv, das an Prousts berühmten Kirchturm von Combray erinnert. Überhaupt ist der Film voll literarischer Anspielungen. Was zunächst nach Stilfragen klingt, nach ästhetischen und imaginären Lebensentwürfen, hat einen konkreten politischen Hintergrund: die Landflucht. Und mit ihr ist Julien als Bürgermeister eines kleinen Dorfs natürlich konfrontiert. Das Land muß verändert werden, er. Ohne es zuzugeben, verwickelt er sich damit aber in einen Widerspruch. Denn wenn das Landleben so schön und gut ist, wie er sagt, muß es ja nicht verändert, sondern gerade erhalten werden.

Den aktuellen Hintergrund der Problematik läßt Rohmer — erstaunlich und geschickt — aus: Europa und die GATT-Verhandlungen. Beide Stichwörter fallen in dem Film nicht. Was Rohmer vermeiden will, im Film vermeiden will, ist: Partei ergreifen. Dabei bringt sein neuer Film genau die Absurdität zur Sprache, die Europa und Gatt nach sich ziehen: daß z.B. Birnen aus Neuseeland billiger sind als einheimische. Wenn es keine gezielten Subventionen mehr gibt, wird es keine europäische Landwirtschaft mehr geben. Und ohne Landwirtschaft kein Landleben. Das ist nicht nur die Schreckensvision der Bauern, die in keinem Land so militant Widerstand leisten wie in Frankreich; das ist auch der Grund für die Jüngeren, in die Städte zu ziehen.

Wie, muß sich der zwischen ökonomischen Interessen und Strukturerhalt vermittelnde Politiker fragen, läßt sich die Landflucht aufhalten? Die Antwort der Sozialisten, die in Frankreich traditionell fortschrittsgläubig und technikfreundlich sind, lautet: indem man das Land urbanisiert. Zum Beispiel mit einer Mediathek.

Aber wollen die Dorfbewohner so etwas überhaupt? Eine Pariser Journalistin, Blandine Lenoir (Clmentine Amouroux), wird von dem eloquenten Cousin des Bürgermeisters, dem sozialistischen Abgeordneten Régis Lebrun- Blondet (François-Marie Banier), beauftragt, für die Parteizeitschrift „Après-demain“ eine Reportage über Saint-Juive und das Projekt des Bürgermeisters zu schreiben. Er wird den Artikel am Ende so zensieren, daß nur der Gegner der Projekts, der Lehrer, zu Wort kommt. Im Unterschied zu ihrem Auftraggeber hält Blandine — sie hat die entschiedene Weichheit der Rohmerschen Frauen — und Mädchenfiguren — Julien für den neuen Politikertyp, den man brauche. Eben weil er mit Widersprüchen lebe.

Die Antworten, die Blandine auf ihrer Recherche in Saint-Juive von echten Dorfbewohnern und professionellen Schauspielern ins Aufnahmegerät gesprochen werden, machen klar: Eine Mediathek würde gar nichts ändern, jedenfalls nicht zum Guten, weder für die Einheimischen noch für die Zugezogenen. Erstere haben ganz andere Sorgen, als an Videos nicht ranzukommen: „Heute fahren alle Trecker, man redet nicht mehr miteinander“, bedauert ein alter Bauer. Letztere haben das Landleben absichtlich als Alternative zum Stadtleben gewählt.

Hauptprotagonist der Zugezogenen ist der eingangs erwähnte Schulrektor Marc Rossignol (Fabrice Luchini). Sein Diskurs ist theatralisch und elaboriert. Er ist ein Miesepeter, mit leichter Neigung zum Querulantentum. Doch betrifft dieses allein seine Rhetorik. Wenn Saint-Juive erst diese scheußliche Mediathek habe, die das Dorf nicht brauche, wäre der Anschluß ans Autobahnnetz nicht mehr weit! Herr Rossignol hat diese Art, alles auf eine Formel zu bringen; ein Übertreibungskünstler. Politisch engagieren will sich der entschiedenste Gegner des Bürgermeister-Projekts auf keinen Fall. Erstens seien alle Parteien Mist, auch die Grünen (die am ehesten seiner strukturkonservativen Haltung nahekommen), und außerdem würde ihn niemand wählen, weil er kein Einheimischer sei.

Seine neunjährige Tochter ist ganz anderer Meinung. Sie wirft ihrem Vater vor, er sei zu pessimistisch und beschließt, altklug und süß, selbst Abgeordnete zu werden, später. Einfluß versucht sie jedoch schon jetzt zu nehmen. Eine der rührendsten Szenen: Die Tochter des Lehrers spricht mit dem Bürgermeister. Wichtiger als was sie sagt, ist, wie sie es sagt. Und: daß sie es sagt.

Denn „L'arbre, le maire et la médiathèque“ ist ein Film über das Sprechen — über die Liebe zum Sprechen; eine Fabel. Rohmer liebt nicht die Argumente (die richtige Position), sondern die Liebe zum Argumentieren (das Spiel mit den Positionen). Und weil auch der Verlierer, der Bürgermeister, diese Liebe teilt, ist er kein Verlierer. Damit befolgt er eindeutig nicht die Gesetze der Politik — eher der Zivilisation.

Die Epoche der Aufklärungheißt auf französisch les lumières, die Lichter. Und was sagt das Kind (irgendwo bei Freud) zu seiner Mutter? „Wenn du sprichst, wird es hell.“ In „L'arbre, le maire et la médiathèque“ wird immer gesprochen. Und nie ist Nacht.

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