: Rußlands geheimer C-Waffen-Sumpf
Der Prozeß gegen den „Geheimnisverräter“ Wil Mirsanajow, der die fortlaufende russische Chemiewaffenproduktion publik gemacht hat, schlägt hohe Wellen ■ Aus Moskau Ulrich Heyden
Auf wachsende Kritik unter russischen Demokraten stößt der Prozeß, der seit einer Woche im Moskauer Stadtgericht gegen den russischen Chemiewaffenexperten Wil Mirsajanow wegen des angeblichen „Verrats von Staatsgeheimnissen“ läuft. Mirsajanow hatte im September 1992 zusammen mit dem Chemieprofessor Lew Fjodorow in einem Artikel für Moskowskije Nowosti über die Entwicklung eines neuen chemischen Kampfstoffs berichtet. Zwar gaben die beiden Experten keine Details, aber mit ihrem Vorgehen brüskierten sie die Militärs, die trotz des von Rußland 1992 unterzeichneten Abkommens über die Vernichtung von Chemiewaffen weiter an der Verbesserung dieser Waffen arbeiteten.
„Ich denke, der Prozeß ist eine Fiktion. Er muß in einigen Tagen beendet werden“, meinte Professor Fjodorow bei Verhandlungsbeginn. Eine begründete Hoffnung: Zuvor hatte Jurij Baturin, der Präsident Jelzin in Fragen der „nationalen Sicherheit“ berät, den Prozeß für verfassungswidrig erklärt. Tatsächlich stützt sich die Anklage auf eine Liste von Informationen, die als Staatsgeheimnisse bezeichnet werden. Die Liste wurde Mirsajanow und seinem Anwalt zwar „gezeigt“, sie durften die Liste aber nicht im Detail studieren, geschweige denn Kopien machen.
Der Prozeß wurde zunächst in Abwesenheit des Angeklagten eröffnet. Als er am dritten Verhandlungstag nicht vor Gericht erschien, wurde er verhaftet und in das Gefängnis Matrosenruhe gebracht. Jetzt wird er dem Gericht zwangsweise vorgeführt. Die Öffentlichkeit ist zum Prozeß nicht zugelassen. Gegen diese Beschränkung protestierten unter anderem Jelena Bonner, der Ökonom Gregori Jawlinski und der Chef des Nordamerika-Instituts, Arbatow. Auch die russischen Medien berichten fast täglich über den Prozeß. Das scheint dem Gericht nicht zu passen: Als sich am letzten Donnerstag der Konvoi mit dem Angeklagten dem Gerichtsgebäude näherte und dort auf etwa 50 Demonstranten stieß, machte er wieder kehrt. Später hieß es dann, die Demonstranten – Vertreter von Menschenrechtsgruppen und Journalisten – hätten den Zugang zum Gericht versperrt.
Mirsajanows Sprecher Andrej Mironow konnte jedoch keine Behinderung des Zugangs erkennen. Seiner Meinung nach gibt es einen anderen Grund. „Sie wollen nicht, daß Mirsajanow erschöpftes Gesicht auf den Fernsehbildschirmen erscheint.“ Mirsajanows Anwalt, Alexander Asnis, hofft, daß Präsident Jelzin oder Generalstaatsanwalt Alexej Kasannik „die ganze Haltlosigkeit der Beschuldigungen gegen Mirsajanow erkennen und auf eine Einstellung der rechtswidrigen Handlung drängen“.
Tausende von Menschen sind erkrankt
Nach Ansicht von Chemieprofessor Fjodorow geht es bei dem Prozeß gegen Mirsajanow nicht um die Frage des Geheimnisverrats. Denn jeder Spezialist, auch im Ausland, hätte anhand der Fachliteratur nachvollziehen können, daß in Rußland an einem neuen chemischen Kampfstoff gearbeitet wurde. Dieser Stoff ist eine phosphor-organische Komponente und extrem giftig. Die „Idee“ hierfür entstand in Wolsk-17, einer der Produktionsstätten für Chemiewaffen am unteren Lauf der Wolga. Die Gegend dort ist hochgradig belastet. Denn an der Wolga, in den Städten Dserschinsk, Nowotscheboksarsk, Tschapajewsk, Gornij, Schixani-2 und Wolgograd stehen hochgiftige Chemiefabriken, die die Gegend verseuchen. Tausende von Menschen sind in Folge dieser Produktion bereits erkrankt, meint Fjodorow.
Es sind die typischen Krankheiten, die im Zusammenhang mit Nervengasen auftreten und außer den Nerven auch Leber, Kopf, Haut und Gehirn betreffen. Bei Kindern wurden genetische Veränderungen festgestellt. Entwickelt wurde der neue Kampfstoff im Moskauer Institut für Chemiewaffen. Kleine Testeinheiten des Kampfstoffes wurden in Wolgograd produziert. Die praktische Erprobung des neuen Kampfstoffs lief in der Zeit an, als Boris Jelzin schon russischer Präsident war.
Daß die führenden Politiker in Rußland das Thema Chemiewaffen nicht öffentlich behandeln wollen, zeigt auch der Fall des Wissenschaftlers Wladimir Uglew, der im Bereich Produktion und Entwicklung chemischer Waffen arbeitet. Er stellte vor kurzem Jelzin ein schrifltiches Ultimatum und schrieb ihm, daß die Bewohner im Gebiet Saratow, in dem sich das militärische Testgelände Schikan befindet, dem Genozid ausgesetzt seien.
Während der letzten Monate, so Uglew, wurden unter der Verletzung von Jelzins Erklärung zur Vernichtung der chemischen Waffen vom 20. April 1993 Gifte ohne Vorkehrungen zum Schutz der Bevölkerung vernichtet. Bis zum 3. Februar, so Uglew ultimativ, solle sich Jelzin einem Gespräch mit ihm stellen. Andernfalls werde er die Presse informieren, wie Rußland die Konvention zur Bannung der chemischen Waffen mißachtet. Uglew kündigte außerdem an, die Formeln und Codenamen der chemischen Waffen öffentlich zu machen.
Das Ultimatum des Wissenschaftlers hatte teilweisen Erfolg. Nicht Jelzin, aber dessen Sicherheitsberater Baturin lud ihn zu einem einstündigen Gespräch ein. Danach erklärte Baturin: „Dies war nicht unser letztes Treffen, wir werden weiter arbeiten.“
Die Vernichtung der chemischen Kampfstoffe in Rußland wird von den USA finanziell unterstützt. Doch ob dieses Geld nur der Vernichtung von Chemiewaffen dient, scheint zweifelhaft. Denn in Rußland sind die alten Chefs der Chemiewaffenproduktion nun verantwortlich für deren Vernichtung – von öffentlicher Kontrolle kann da keine Rede sein. Lew Fjodorow: „Die finanzielle Hilfe Amerikas ist nicht so gut für uns, weil dies eine Hilfe für unseren militärisch-industriellen Komplex ist.“
Fjodorow gründete im letzten Oktober zusammen mit Wissenschaftlern und Bewohnern der betroffenen Gebiete die „Union Chemische Sicherheit“. Es ist jedoch nicht einfach, die Menschen außerhalb der betroffenen Gebiete über die Gefahren der Chemieproduktion aufzuklären. Denn es sind noch nicht einmal die Folgen der Atomkatastrophe von Tschernobyl verarbeitet.
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