: Serbenführer Karadžić ist bisher wenig beeindruckt von dem Ultimatum der Nato. Während die westliche Allianz hinter dem Beschluß steht, warnt Rußland vor Luftangriffen. Bonn signalisiert Unterstützung – wenn auch keine militärische.
Verschiedene Lesarten eines Ultimatums
Wenig beeindruckt vom Beschluß des Brüsseler Nato-Rates zu Luftangriffen auf schwere Waffenstellungen bei Sarajevo zeigte sich der bosnische Serbenführer Radovan Karadžić, als er gestern morgen den Genfer UNO-Palast betrat. Er werde die Verhandlungen so lange boykottieren, bis eine internationale Kommission die Verantwortung für das Massaker von Sarajevo vom vergangenen Samstag geklärt habe. Tatsächlich saßen Karadžić, Bosniens Premierminister Haris Silajdžić und der westherzegowinische Kroatenführer Akmadžić zwar einige Stunden mit den beiden Vermittlern von UNO und EU, Stoltenberg und Owen, zusammen, doch tatsächlich verhandelt wurde über das von den Vermittlern auf die Tagesordnung gesetzte Thema „Separatfrieden für Sarajevo“ nicht.
Im Gegensatz zu vielen Berichterstattern und Politikern in westlichen Hauptstädten, die gestern von einem „Ultimatum“ der Nato an die Serben spachen, hat Karadžić den Beschluß aus Brüssel wieder einmal genauer gelesen und wohl auch richtiger interpretiert als alle anderen. Darin ist eben ausdrücklich nicht von einem „Ultimatum“ die Rede, nach dessen Ablauf Luftangriffe auf nicht abgezogene schwere Waffen automatisch erfolgen würden. Es wird lediglich eine gestern Nacht um 1 Uhr MEZ angelaufene Zehntagesfrist gesetzt, nach deren Ablauf die Unprofor-Kommandanten über UNO-Generalsekretär Butros Ghali Luftangriffe beim Nato- Kommando Süd in Neapel anfordern können.
Das Mandat Ghalis zur Anforderung von Luftangriffen auf Stellungen schwerer Waffen ist jedoch keineswegs so eindeutig, wie der Generalsekretär selber, die Nato und auch Bundesaußenminister Kinkel dies in den letzten Tagen darstellten. Das weiß auch Karadžić sehr genau. In der UNO-Resolution 836 des UNO-Sicherheitsrates vom 4. Juni 1993, auf die Ghali sich stützt, heißt es wörtlich: „Die UNO-Mitgliedstaaten können unter der Autorität des Sicherheitsrates und in enger Koordination mit dem UNO-Generalsekretär und Unprofor alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um durch den Einsatz von Luftstreitkräften („through the use of air power“) die Unprofor-Truppen bei der Ausführung ihres Mandates innerhalb und außerhalb der sechs Sicherheitszonen in Bosnien-Herzegowina zu unterstützen.“
Nach Auffassung der russischen Regierung kann Ghali auf Basis dieser Resolution lediglich Unterstützung aus der Luft anfordern, nicht aber Luftangriffe auf Waffenstellungen. Seinen eigenen Sprecher Ahamd Fawzi ließ Ghali am Mittwoch nachmittag in New York erklären: „Der Generalsekretär hat ein Mandat des Sicherheitsrates für Lufteinsätze. Gegenwärtig schließt das keine Lufangriffe ein.“ Offensichtlich sollte mit diesem Signal Moskau zumindest bis zum Beschluß am Mittwoch abend ruhig gehalten werden. Inzwischen hat die russische Regierung die Nato-Entscheidung als „übereilt“ bezeichnet und die Einberufung des Sicherheitsrates gefordert. Für Luftangriffe müsse Ghali sich erst noch die Zustimmung dieses Gremiums holen.
Möglicherweise Entscheidendes tat sich hinter den offiziellen Kulissen der Genfer Verhandlungen. Vertreter der 650.000 von insgesamt 780.000 bosnischen Kroaten, die sich von den bislang von EU und UNO als Verhandlungspartner auserkorenen westherzegowinischen Regionalfürsten Boban und Akmaidžić nicht repräsentiert fühlen, legten dem bosnischen Premierminister Silajdžić in der Nacht zum Mittwoch einen neuen Vorschlag für eine Friedenslösung vor. Nach diesem Vorschlag, der am letzten Sonntag auf einer großen Versammlung von 700 bosnischen Kroaten in Sarajevo verabschiedet wurde, soll Bosnien-Herzegowina als Republik in ihren bisherigen Grenzen erhalten bleiben und in drei Großregionen sowie 17 multikulturell bewohnte Kantone untergliedert, nicht jedoch aufgeteilt werden. Silajdžić reagiert positiv auf diesen Vorschlag. Selbst der kroatische Außenminister Granić signalisierte seine Unterstützung und setzte sich damit in Gegensatz zu seinem Präsidenten Tudjman, der bislang noch auf der Dreiteilung Bosnien-Herzegowinas beharrt.
Die bosnisch-kroatischen Mehrheitsvertreter verlangen nun, anstelle von Boaban und Akmaidžić von der EU und der UNO offiziell als Verhandlungspartner am Genfer Tisch akzeptiert zu werden. Außerdem erwarten sie, daß insbesondere die Regierung Kohl/ Kinkel ihre Einflußmöglichkeiten auf Tudjman nutzt, um ihn zur Unterstützung dieser bosnisch-kroatischen Mehrheitslinie zu bewegen. Andreas Zumach, Genf
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