Das Gefühl von Miranda

■ Südamerikanisches Tagebuch, Teil 2: Auf dem Weg ins Pantanal Von Sven-Michael Veit

Nun stehen wir hier seit zwei Stunden. Miranda heißt das Örtchen, im Südwesten Brasiliens, auf halbem Weg zwischen Campo Grande und Corumbá. Die Lok ist kaputt, so munkelt man, die Uniformierten geben sich uninformiert. Die Reisenden bevölkern den Bahnsteig und kaufen den kleinen Kiosk leer. Dessen Besitzer strahlt, er macht das Geschäft seines Lebens. Es ist unerträglich heiß, die Sonne steht im Zenit.

Heute morgen um fünf hatte uns der Nachtbus aus Cuiabá in Campo Grande ausgespuckt. Schlaftrunken waren wir zum Bahnhof gegangen, mittwochs und sonntags soll der Zug nach Corumbá fahren. Heute ist Mittwoch. Für sieben versprach eine Kreidetafel den Zug, er kam um halb zehn. Die Waggons sahen aus, als ob sie häufiger benutzt würden, die Lok schnaufte bedenklich.

Nun stehen wir hier seit vier Stunden. Die ersten Einwohner kommen mit belegten Brötchen zu überhöhten Preisen, Mineralwasser und Cola gehen zur Neige. Der Kioskbesitzer schickt seine Familie Nachschub holen. Unter den Zugklos häuft sich die Scheiße. Die Uniformierten bewahren ihr Stillschweigen über unser weiteres Schicksal.

C. und ich wollen ins südliche Pantanal, dieses Feuchtgebiet von der Größe Deutschlands im Grenzgebiet von Brasilien, Bolivien und Paraguay. Von Cuibá aus waren wir bereits für ein paar Tage zu einer Fazenda im nördlichen Pantanal gefahren. Hinter dem Haus türmte sich eine Halde aus Plastikflaschen und Coladosen, die Vorderfront grenzte an den Fluß. Jeden Abend schwammen zwei Alligatoren bis vor die Küchentür und warteten auf Essensreste.

Eines Abends standen wir auf einer Brücke und leuchteten in das Wasser. Im Schein der Taschenlampe blitzten Augen, bernsteinfarbene Punkte im Dunkeln. Bei Tag einem jacaré aus drei, vier Metern in die Augen zu schauen, hat schon was. Beeindruckend ausdruckslos. Aber diese Bernsteine in der Nacht... Wir zählten dreizehn Augenpaare in dem Tümpel. Überbevölkert, fanden wir, Frank, unser Führer, fand es wenig.

Nun stehen wir hier seit sechs Stunden. Es wird dunkel, es wird etwas weniger heiß, die Brötchen werden billiger, die Uniformierten nicht redseliger, der Wassernachschub versickert. Ich gehe in den Ort. Zwei Läden sind ausverkauft, die Besitzer strahlen. In einer Bar kaufe ich dem strahlenden Wirt die vorletzte Flasche Mineralwasser ab. Es ist gasificado, mit Kohlensäure. C. mag das Rülpswasser nicht, aber sie hat keine Wahl.

Frank hat uns nicht nur mit Flora und Fauna des nördlichen Pantanal bekannt gemacht. Sein Lieblingsthema sind die steinreichen Großgrundbesitzer, die fazendeiros. Viele Besitze sind größer als Hamburg, mit Privatflugplatz, damit der dono und sein Clan übers Wochenende aus Sao Paulo oder Rio einschweben können. Die Landarbeiter schuften meist gegen Kost und Logis: Moderne Sklaverei; die fazendeiros lassen Gold waschen: Das Quecksilber hat bereits viele Flüsse verseucht.

Frank ist 21, Peruaner, trägt den wohlklingenden Namen Franklin Santos de Oliveira, ist aus einer Generalsfamilie abgehauen, hat ein Ingenieurstudium abgebrochen, möchte irgendwann in Brasilien Geographie studieren oder in der Inka-Stadt Cuzco eine eigene Touri-Agentur aufbauen und jobbt in Cuiabá als guia, mit Touristenvisum, ohne Arbeitserlaubnis und ohne Führerschein.

Frank und Cecilia, die Lehrerin aus Buenos Aires, die mit uns unterwegs ist, fragten uns Löcher in den Bauch wegen der Neonazis in Deutschland. Es ist zwei Monate nach dem Attentat von Mölln, der Wahnsinn von Solingen liegt noch in der Zukunft. Was sind das für Leute, wollen sie wissen, wieviele sind es, wo kommen die her, was macht ihr dagegen?

Der Imbißbudenwirt in dieser Stadt am Orinoco, Frank Kahsen, der uns durch die Tafelberge der Gran Sabana im Süden Venezuelas führte, der halbwüchsige Hängemattenverkäufer in dieser Dschungelstadt im brasilianischen Norden und jetzt Cecilia und Franklin – keiner spricht mehr von Beckenbauer, alle fragen nach den Neonazis. Wir wissen keine Antwort, die sie zufriedenstellt.

Nun stehen wir hier seit acht Stunden. Aus der Dunkelheit kommen drei Scheinwerfer und ein dumpfes Dieselgeräusch auf uns zu: Die Ersatzlok. Es geht weiter, Miranda und strahlende Gastronome bleiben zurück.

Sechs Stunden später, morgens um drei, sitzen wir übernächtigt auf dem Bahnhof von Corumbá. Jim, ein hagerer Schotte, und sein brasilianischer Kumpel Catu (“the best guide in the whole Pantanal“) nehmen uns im Pickup mit in die Stadt zu einer lanchonete, die rund um die Uhr geöffnet hat. Sie liegt direkt nebem dem Salette, dem billigsten wanzenfreien Hotel der Stadt.

Würden wir vor sechs reingehen, müßten wir die fast schon vergangene Nacht bezahlen. Also trinken wir Kaffee, um uns wach zu halten, Catu und Jim trinken Bier auf unsere Rechnung. Jim ist vor neun Jahren hier hängengeblieben und fängt Piranhas für zwei Amis, die sie getrocknet an Touris verhökern. In seinem früheren Leben war er Werbetexter in Glasgow. Sein Hitslogan war ihm für eine Buttermarke eingefallen: „You'll never get a / better / butter / on your knife / in your life / than COUNTRY LIFE“. In seinem harten schottischen Englisch klingt es umwerfend komisch.

Nelson kommt vorbei. Er ist schwul, er ist an Aids erkrankt, er wird bald sterben. Er ist Friseur, aber keiner kommt mehr zum Haareschneiden. Er verkauft Teebeutel, einzeln. Wir kaufen ein paar.

Um halb sechs dürfen wir ins Salette. Nach 36 Stunden Bus und Bahn wieder ein Bett. Wir schlafen bis zum Nachmittag.