: Seit fünfzig Jahren Rudi Rastlos
■ Gesichter der Großstadt: Rudi Rückert ist der "Tramper-König" von Berlin / Der Gründer einer eigenen "Tramper-Partei" ist schon eine halbe Million Kilometer weit gereist
Einfach mal die Koffer packen und in die Sonne flüchten, ist für viele nur ein Wunschtraum. Nicht für Rudi Rückert. Immer wenn den 50jährigen das Fernweh packt – und das ist fast immer –, dann stellt er sich an die nächstbeste Straße und wartet, bis ihn jemand mitnimmt. Und da hat er meistens Glück: Seit rund dreißig Jahren trampt Rudi Rückert durch alle fünf Kontinente, „über den Daumen gepeilt“ ist er schon knapp eine halbe Million Kilometer weit gekommen.
Trotz des permanenten Fernwehs treibt es Rudi Rückert immer wieder zurück nach Berlin: Im Schöneberger Kiez hat er seit sieben Jahren eine kleine Einzimmerwohnung, in der er sich von seinen Reisestrapazen ausruht. Hier bastelt er auch an seinem Image. Gerade hat er sich Autogrammkarten anfertigen lassen, die er beim Trampen verteilt. Und er hat sich selbst gekrönt: „Ich bin der Tramper-König von Berlin und Deutschland, eines der wenigen Orginale, die es noch gibt.“
Zu einem richtigen Image gehört natürlich auch ein Programm: Bereits vor 25 Jahren hat Rudi Rückert einen Tramper-Club gegründet, vor einem Jahr die „Tramper-Partei“. Die Ziele: Volljährigkeit mit 16 Jahren und ein „Tramperjahr“ vom Arbeitsamt finanziert statt Bundeswehr und Zivildienst. Zu Wahlen ist die Tramper-Partei allerdings noch nicht angetreten („zuviel Bürokratie“), aber Rudi Rückert ist dennoch überzeugt, daß sie Erfolg hätte: „Jeder braucht mal ein bißchen Freiheit und muß zwanglos leben können.“
Niemals in alltägliche Routine zu verfallen – Rudi Rückert glaubt, daß er das „wie ein Gen“ seit seiner Geburt im Blut hat. Bereits als Fünfjähriger ist er zum ersten Mal ausgerissen, mit neun Jahren getrampt: von Bernau nach Berlin.
Doch die Pläne der Mutter, den Sohn zu einem soliden Menschen zu machen, fruchteten zunächst. Nach der Hauptschule begann er eine Klempnerlehre („der längste Job, den ich jemals hatte“), als 17jähriger wechselte er zum Bundesgrenzschutz und landete schließlich bei der Polizei in Wiesbaden: „Das war gut, denn da habe ich die Gesetze gelernt.“
Aber das solide Leben langweilte ihn entsetzlich: Rudi Rückert ging nach Berlin, lebte mal hier, mal dort und demonstrierte gegen den Vietnamkrieg. „Das habe ich zwar auch aus politischer Überzeugung gemacht“, sagt er heute, „aber hauptsächlich, weil ich Haß auf das Leben meiner Eltern hatte.“
Sein Ziel, ganz anders als seine Eltern zu leben, trieb ihn immer mehr in die Ferne: Sidney, San Francisco oder Rio de Janeiro – kein Weg war ihm weit genug. Trotzdem, Ordnung muß sein: Jeder Kilometer, den er im Auto oder per Schiff zurücklegte, wurde akribisch in eine dicke Kladde eingetragen, jede Arbeit, die Rudi Rückert annahm, um sich über Wasser zu halten, in eine Liste eingetragen. Bisher waren es ungefähr achtzig verschiedene Jobs: Strandkorbwärter, Hilfsaufseher im Knast, Liegewagenschaffner oder Rausschmeißer in einer Disco.
Geplant war keine seiner Reisen: Die Schnulze „Die Fischerin vom Bodensee“ lief morgens im Radio, und Rudi Rückert trampte mittags los, um den Bodensee zu erkunden. Dort arbeitete er dann als Gleisbauer und Schrankenwärter, bis er zu seinem nächsten Ziel aufbrach.
In den letzten Jahren aber ist Rudi Rückert etwas ruhiger geworden. Er hält sich häufiger in seinem Domizil in Schöneberg auf. In Berlin arbeitet der 50jährige, der mit Bauchansatz und Nylon-Jogginghose eher wie ein biederer Familienvater aussieht, mal als Tellerwäscher, mal als Straßenfeger. Und er widmet sich seiner zweiten Leidenschaft: dem Sortieren und Archivieren von Presseaufklebern- und Souvenirs. Geld hat er fast nie, aber das stört ihn nicht. Manchmal fühlt er sich einsam, doch das Trampen ist wie eine Sucht: „Ich will bis hundert weitermachen.“ Dann nimmt er seinen Brustbeutel, der an einem Haken ordentlich an der Wand hängt, und trampt los: Derzeit ist er in Lillehammer, um sich die Olympischen Winterspiele anzusehen. Julia Naumann
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