Weise Närrinnen

Allie Light: Frauen mit Psychiatrieerfahrungen (Panorama)  ■ Von Anke Westphal

Zum Ende des Films fährt die Kamera über einen Friedhof und kommt langsam vor einem Kreuz zur Ruhe. Auf dem Kreuz steht ein Name, der während des Films wichtig geworden ist. Karen Wrong, US-Amerikanerin chinesischer Abstammung, wurde 1991 in ihrem Appartement in San Fransico vergewaltigt und dann ermordet. Karen war eine der sieben Frauen, die die Regisseurin und Oscar-Preisträgerin Allie Light für ihre „Dialogues with Madwomen“ porträtiert hatte.

Allie Lights Doku-Drama über amerikanische Frauen mit Psychiatrie-Erfahrung findet in Karen ungewollt zu seiner eigentlichen, tieftragischen Definition: Eine, die die Untiefen von Verrücktheit und Psychiatrie glücklich überlebt hatte und so etwas wie „über den Berg“ war, stirbt an den Auswüchsen des „normalen Lebens“. Der Schock darüber sitzt so tief, daß man für einige Sekunden den dünnen Faden zur Welt verliert. Begriffen hat man nach diesen vergangenen 70 Filmminuten, daß zwischen uns und den „verrückten Frauen“ nur ein gradueller Unterschied besteht.

Die runde Deedee war Katholikin. Das Beste am Katholischsein sei das Sterben und die Erlösung, sagt sie lächelnd. Als Deedee zum erstenmal spricht, flattern weiße Kommunionsschleier in kahlen Bäumen. Später erlebt Deedee ihr Coming-out als Lesbe. Deedee war, so wollten die Ärzte wissen, „schizophren“, „schizoaffektiv psychotisch“, „manisch-depressiv“ und „paranoid“. Deedee lächelt jetzt darüber, wie die anderen Frauen auch, denn die Weisheiten der Ärzte flirren zwischen Polen, die zu verschieden sind vom Erleben und der Geschichte der Protagonistinnen.

Das Lächeln der Frauen tut weh. Die meisten von ihnen wurden psychisch durch eine Sozialisation verbogen, die sexuellen Mißbrauch in der Kindheit einschloß, das Gefühl, ungeliebt und ungewollt zu sein. Eine der Befragten spaltete sich in so viele Personen, wie sie brauchte, um die Zumutungen perverser Lebensumstände adäquat aufzufangen. Die Erinnerungen der „Madwomen“ beschreiben phantasievolle und empfindsame Menschen, die sich durch den Ausbruch in das, was als Wahn klassifiziert wurde, weigerten, verlogene und langweilige Erwachsene zu werden.

Der Wahnsinn in den Porträts von Allie Light reflektiert das Spektrum an Verrücktheit, das die Gesellschaft latent schon aufweist. Die Jüdin Hannah hat während ihrer psychiatrischen Intermezzi darüber phantasiert, die Erde zu erretten, natürlich als Paar, da Jesus in einer dichotom eingerichteten Welt sowieso nur eine Hälfte vorstellen kann. Daß Hannah sich dabei einen Platz als „soulmate“ von Bob Dylan herausnimmt, macht sie auch nicht verrückter als die ganze Wunderkiste blauer Planet eh schon ist.

In Allie Lights sehr privater Metaphernsprache bluten Schlüssellöcher. Die Abweichung von der Norm wird in romantischen Bildern illustriert, von der Reinheit minimalistischer Chöre begleitet. Der Wahn ist schön, gefährlich, ein autonomes Reich voller zärtlicher Sinne, ohne geschönt zu werden. „Go mad is to learn about metaphores“, sich zu verstümmeln bis hin zum Suizidversuch ist der extremste Versuch, in einer Scheinwelt etwas Wirkliches zu tun und so schon wieder logisch. „The idea of who I was“ gerät zur universellen Existenzfrage aller Porträtierten. In den Gegenwelten ihres Wahns verschwindet für Deedee, Karen, Hannah und all die anderen die wirkliche welt, weil sie unerträglich ist: ein Defilee bigotter Elternhäuser, vergewaltigender Väter, unsinniger sozialer Vereinbarungen. Die Psychiatrie, so begreifen die Frauen und die Regisseurin, soll die Anpassung ans Funktionieren in defekten Strukturen wiederherstellen. Unsensible Ärzte stellen seltsame Fragen wie die an eine depressive Patientin gerichtete, die dabei nackt vor dem Arzt sitzen muß: ob sie denn gern den Schwanz ihres Mannes küsse. Mißbrauch, Ignoranz, Gewalt und Repression gerieren eine generelle „matrix of miseducation“. Einige der Frauen versuchen folgerichtig, ihren Körper zu verlassen – „if this is all you got to expect“. Große Erwartungen an etwas, das vor allem grausam und banal zu sein scheint, das Leben. Ein schönes Grundvertrauen, das bei allen Befragten zu früh gebrochen wurde.

Allie Lights Film ist eine sehr sanfte, wunderschöne Hommage an die Initiation in die Verrücktheit und die Rückkehr aus ihr. Der Wahn sei der extremste Weg, etwas über sich herauszufinden, sagt Deedee, die am Schluß mit einem großen, schweren Koffer in der Hand ins Meer tapst. „Boundaries and visions“, zwischen ihnen wartet der Wahnsinn. Die Filmemacherin ist selbst eine der porträtierten Frauen. Anke Westphal

Allie Light: „Dialogues with madwomen“. USA, 89 Min. 14.2. Atelier am Zoo 18h; 15.2. Filmpalast 18h