Von der Wiege bis zur Bahre

Die neue Chipkarte ist der Einstieg in die vollständige EDV-Erfassung der Patienten  ■ Von Klaus-Peter Görlitzer

Wenn es darum geht, die Öffentlichkeit über die neue Krankenversichertenkarte (KVK) zu informieren, halten sich Ärztefunktionäre, Krankenkassen und Computerindustrie gern bedeckt. Intern, auf Kongressen und in Verbandszeitschriften, feiern sie die Einführung der maschinenlesbaren Speicher-Chipkarte hingegen als strategischen Durchbruch. Denn das unscheinbare Plastikstück gilt ihnen als Meilenstein auf dem Weg zur Verwirklichung einer Vision: Nur noch wenige Jahre, so die großspurige Voraussage, dann wird jeder Bürger seine persönliche Gesundheits- und Krankengeschichte „endlich in die Hand nehmen“ können – und zwar im Scheckkartenformat. Auf einer Prozessor-Chipkarte – im Fachjargon als Smart Card bezeichnet, einem Computer im Miniformat –, soll von Geburt an alles gespeichert und verarbeitet werden, was gesundheitsrelevant ist, sein kann oder wird: medizinische Diagnosen, Therapiedaten, Ergebnisse von Vor- und Nachuntersuchungen, Allergien, Medikamentenunverträglichkeiten, Mutter- und Röntgenpaß, Bereitschaft zur Organspende – der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Vordenker für solche Visionen ist Professor Claus O. Köhler, Leiter der Abteilung Biologische Informatik des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg. Gemeinsam mit Industrievertretern, unter anderem von IBM, Siemens und Dornier, verfaßte er 1991 ein „Memorandum zum Einsatz der maschinenlesbaren Karte im Gesundheitswesen“. Die lückenlos dokumentierte Krankengeschichte in der Brieftasche, so die Botschaft, diene den „heutigen und zukünftigen Bedürfnissen der Menschen“ – den Ärzten, weil sie sich mit Hilfe von Smart Card und Lesegerät jederzeit alle diagnose- und therapierelevanten Informationen verschaffen könnten; den Patienten, weil ihnen dadurch belastende Mehrfachuntersuchungen, zum Beispiel Röntgenaufnahmen, erspart blieben.

Das sind aber längst nicht alle „Vorteile, die Köhler und seine Mitstreiter aus der Industrie aufzählen. „Wesentlich besser durchführen“ ließen sich mit Hilfe maschinenlesbarer Karten auch „Programme zur Gesundheitserziehung“ sowie „Präventions- und Interventionsstudien“; zudem würden „Autonomie und Selbstverantwortung der Patienten“ durch die neue Technik erhöht.

Solche Ideen stoßen bei Betroffenen auf Argwohn und Kritik. Die PatientInnenstelle Köln etwa warnt, die Chipkarte beschwöre die Gefahr einer „Entmündigung, Durchleuchtung und Entsolidarisierung“ der Patienten herauf. Ohnehin tauchen im Rahmen der Bonner Spardiskussionen regelmäßig Vorschläge auf, „Risikoverhalten“ einzelner nicht mehr von der Versichertengemeinschaft mitfinanzieren zu lassen. Die Smart Card mit lückenlos dokumentierter Krankengeschichte käme manch eifrigem Sparer gerade recht. Belegt eine Karte etwa, daß der Inhaber nicht alles für seine Gesundheit getan hat, also regelmäßig Vor- und Nachsorgeuntersuchungen, Schwangerschaftsgymnastik und Nichtraucherkurse schwänzt, erhält er bestenfalls eine höfliche Aufforderung zur Besserung ins Haus; schlimmstenfalls könnten auch Beitragserhöhungen oder gar Kündigung wegen nicht gesundheitsgerechter Lebensführung angedroht werden – vorausgesetzt, die rechtlichen Grundlagen für solche Sanktionen würden geschaffen. Dem Medizin-Informatiker Claus Stark von der Fachhochschule Heilbronn schwant sogar, Krankenkassen könnten auf die Idee kommen, jedes Jahr ein Budget mit „Risikopunkten“ auf der persönlichen Gesundheitskarte einzurichten. Sind die Punkte vorzeitig verbraucht, zahlt die Versichertengemeinschaft nicht mehr. Wer vermeintlich risikoarm lebt, so das Szenario weiter, darf hingegen mit einer Prämienrückerstattung rechnen. Stark fordert dringend eine „intensive“ Technikfolgenabschätzung, bevor sich Patienten-Chipkarten unkontrolliert breitmachen.

Die tragbare Krankengeschichte könnte aber auch Institutionen außerhalb der Gesundheitsbürokratie interessieren. „Vorsicht negative Vision!“ schickt Informatiker Stark voraus und weist im gleichen Atemzug darauf hin, die Chipkarte sei geeignet, Daten für eine „Schutzgemeinschaft Gesundheit“ zu liefern, die sich womöglich bei privaten Krankenversicherungen etablieren werde. Dahinter steckt die Befürchtung, Arbeitgeber und Versicherungen könnten sich vor Einstellung und Vertragsabschluß die komplette Krankengeschichte der Bewerber ausdrucken oder vorlegen lassen. Schon heute dürfen private Versicherer bei Vertragsabschluß sämtliche Umstände abfragen, „die für die Übernahme der Gefahr erheblich sind“. Das erlaubt Paragraph 16 des Versicherungsvertragsgesetzes. Demnach ist der freiwillige Vertragspartner verpflichtet, wahrheitsgemäß zu antworten beziehungsweise seinen Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden. Patientenkarten könnten dazu verführen, diese Praxis zu perfektionieren und vermeintlich objektiver zu machen.

Ungeachtet solcher Bedenken treiben Funktionäre der Ärzteschaft die Vision von der Krankengeschichte im Pocketformat voran – unspektakulär, Schritt für Schritt. Im Spätherbst sollen die rheinland- pfälzischen Städte Neuwied und Andernach Modellregionen werden – und zwar für den ersten bundesweiten Versuch mit Patienten- Chipkarten, die medizinische Daten verwalten. Initiiert hat ihn die Kassenärztliche Vereinigung Koblenz. Gedacht ist an die Speicherung personenbezogener Informationen zu Bluthochdruck, Arzneimittelallergien und Herzschrittmachern.

In der Testregion wohnen rund 100.000 Menschen. Fraglich ist, wie viele sich eine Patientenkarte ausstellen lassen: Die Teilnahme an dem Modellversuch ist – im Gegensatz zu der KVK – freiwillig. Ob die Patienten ihre Verkartung akzeptieren werden, beurteilt selbst Visionär Köhler eher zurückhaltend: „Es wird das größte Problem werden“, ahnt der Technik-Enthusiast, „die Gesellschaft davon zu überzeugen, daß der Einsatz derartiger Karten – zumindest für den immer weiter wachsenden Teil der chronisch Kranken – medizinisch sinnvoll ist.“